Mülheim. Jurist und Philosoph Werner Marx entkam dem NS-Grauen. Mülheimer war zeitlebens erstaunt über „die kritiklose Bereitschaft, alles mitzumachen“.

Heute wird auch in Mülheim der sechs Millionen Holocaust-Opfer gedacht. 270 von ihnen kamen aus der Ruhrstadt. Am 27. Januar 1945 befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Der Name wurde zum Synonym für den im deutschen Namen begangenen Völkermord an den europäischen Juden.

Den Ort des heutigen Gedenkens, den 1725 angelegten Friedhof der Jüdischen Gemeinde an der Gracht, kannte auch Werner Marx. Er wurde 1910 als Sohn des Modekaufmanns Karl Marx in seinem Elternhaus am Kohlenkamp geboren. Sein Vater war bis zum 31. März 1933 Vorsitzender des Mülheimer Einzelhandelsverbandes. Doch an diesem Tag wurde er seines Amtes enthoben. Tags darauf standen auch vor seinem Geschäft am Kohlenkamp SA-Männer. Sie versperrten Kunden den Weg und forderten sie auf: „Deutsche wehrt Euch. Kauft nicht bei Juden!“

Laut Mülheims Presse diente der antisemitische Kaufboykott zur Aufrechterhaltung der Ordnung

Die gleichgeschaltete Lokalpresse verkaufte den antisemitischen Kaufboykott im Sinne der nun auch in Mülheim mit ihrem Oberbürgermeister Wilhelm März und ihrem Kreisleiter Karl Camphausen regierenden NSDAP als Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. SA und SS hatten damals den Status einer Hilfspolizei.

Auch 32 Jahre später konnte der damals soeben mit dem Ruhrpreis ausgezeichnete Jurist und Philosoph Werner Marx „die plötzliche Heraufkunft schlimmster Barbarei“ nicht verstehen, die er 1933 in seiner Heimatstadt hatte miterleben müssen, „und die meinen Überzeugungen von der Würde und Bestimmung des Menschen widersprach“. Im Rückblick wunderte sich Marx, der sich den Mülheimer Ruhrblick „tief in der Seele bewahrt“ hatte, über die „kritiklose Bereitschaft, alles mitzumachen oder geschehen zu lassen und Freundschaften zu jüdischen Mitbürgern zu verleugnen“. Er verstand sich 1933 wie 1965 „als Teil der Symbiose aus Judentum und Deutschland, die hervorragende Menschen hervorgebracht hat, ob große Gelehrte oder einfache sittliche Persönlichkeiten“.

In New York konnte sich Marx als Rechtsberater eine Existenz aufbauen

Während seine Eltern noch bis 1938 ihr Modegeschäft am Kohlenkamp fortführten, wählte der promovierte Jurist Werner Marx 1933 das Exil, nachdem er auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des deutschen Berufsbeamtentums im April aus seinem Referendariat entlassen worden war. In New York konnte sich Marx als Rechtsberater eine Existenz aufbauen und an der New School for Social Research studieren und lehren. Dies erlaubte es ihm, seine Eltern 1939 aus Mülheim zu sich in die USA zu holen. So gehörten seine Eltern und er zu den 300 der damals 626 jüdischen Mülheimern, die ihr Leben durch eine Flucht aus NS-Deutschland retten konnten.

Werner Marx aus Mülheim
Werner Marx (l.) als 15-Jähriger beim Tennisspielen 1925 mit Freunden am Kahlenberg in Mülheim. © Stadtarchiv Mülheim | Stadtarchiv Mülheim

Doch auch an seinen „in sich ruhenden Lehrer“, Theo Crinz, „dem ich die Unterstützung und Ausrichtung meines frühen Bedürfnisses zu philosophieren, verdanke“, sollte sich Marx in seiner Ruhrpreisrede 1965 erinnern. So studierte er nach dem Abitur, das er 1929 am Staatlichen Gymnasium, der heutigen Otto-Pankok-Schule, bestand, an der Universität in Freiburg Rechtswissenschaften und Philosophie. Dort traf er auch auf den Philosophen Martin Heidegger, der - trotz seiner Geistesgröße - 1933 dem Nationalsozialismus verfiel. Heideggers Professur sollte Werner Marx übernehmen, nachdem er 1958 aus dem amerikanischen Exil nach Freiburg, nicht aber nach Mülheim zurückgekehrt war. In Baden fand er seine zweite deutsche Heimat, dort starb er 1994.

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