Mülheim. Mülheimer mit Behinderung beraten bei der KoKoBe andere Behinderte. Welche Themen dabei oft zur Sprache kommen und was die größten Hürden sind.
Sie wissen genau, wie es sich anfühlt, vor unüberwindbaren Hürden zu stehen, sich durch ihr Handicap im Leben ausgebremst zu fühlen oder als behinderte Menschen schlicht übergangen zu werden. Durch ihre eigene Behinderung sind sie Experten, die als sogenannte Peer-Group andere Menschen mit Handicap beraten. Ein Volltreffer, weiß man heute bei der KoKoBe, der Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung in Mülheim. Wir haben Nadin, Michael, Sebastian und die anderen besonderen Berater gefragt, mit welchen Themen sie tagtäglich konfrontiert sind.
„Nur weil ich im Rollstuhl sitze, ist das doch kein Grund, mich nicht ernst zu nehmen“, sagt Nadin bestimmt. Die 44-Jährige ist seit ihrem sechsten Lebensjahr auf den Rollstuhl angewiesen, sie wurde mit Spina Bifida, einem offenen Rücken, geboren und ist motorisch eingeschränkt. Was die Mülheimerin nicht daran hindert, mitten im Leben zu stehen. Sie arbeitet im Fliedner-Werk, lebt mit ihrem Mann in einer eigenen Wohnung, erhält Betreuung, etwa bei Arztterminen oder beim Einkaufen. Dass sie sich von ihrem Rollstuhl aus nicht selten Gehör verschaffen muss, sich oftmals übergangen fühlt, „weil ich ja behindert bin“, empfindet sie als psychisch belastend.
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37-jährige Mülheimerin mit geistiger Behinderung: „Wir können uns in die anderen hineinversetzen“
Hier, bei der KoKoBe, die bereits seit 20 Jahren besteht, ist sie festes Mitglied der Peer-Beratung, bei der speziell geschulte Menschen mit Behinderung andere Menschen mit Behinderung beraten. Die Beraterinnen und Berater bieten dabei auch Hausbesuche oder Gesprächstermine in Werkstätten für behinderte Menschen oder in Förderschulen an – je nachdem, in welchem Umfeld sich am besten reden lässt. Denn darum geht es, weiß auch Yvonne. „Zu uns kann man mit jedem Problem kommen, ob es was in der Partnerschaft ist oder etwas mit der Betreuung, wir bringen Empathie mit und können uns in den anderen hineinversetzen“
Die 37-Jährige ist geistig behindert und ihrer Intelligenz eingeschränkt. Sie liebt die Gemeinschaft der Peer-Beratung, hat hier Freunde gefunden und unterstützt andere, wo sie kann. Menschen mit Behinderung bei der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu unterstützen, ist erklärtes Ziel. Aber auch deren Angehörige erfahren Unterstützung, denn sie sehen sich nicht selten genau solchen Hürden gegenüber.
35-Jähriger bricht wegen Depressionen das Studium ab
Aus Sicht der Fachkräfte, der KoKoBe-Mitarbeiterinnen Sabrina Sunderbrink von der Lebenshilfe und Janina Rosendahl-Marosch der Theodor-Fliedner-Stiftung, macht das Einbeziehen der sechs Behinderten, die vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) speziell zu Peer-Beratern ausgebildet worden sind, absolut Sinn: „Wir leben nicht damit, wir wissen nicht, wie es sich anfühlt.“ Mancher Fachkraft helfe der Input der Peers, ihren Tunnelblick zu weiten. Freilich wird ihr Beistand durch die besonderen Berater nicht vollständig überflüssig. „Sie ziehen uns hinzu, wenn‘s etwa um rechtliche Frage geht, wenn kniffelige Anträge auszufüllen sind.“
In Lebensfragen aber, da sind Nadin, Yvonne, Michael, Sebastian, Felix und Heidi die Fachleute. „Wir können uns mehr Zeit für den anderen nehmen und finden meistens gemeinsam eine Lösung“, sagt Sebastian. Der 35-Jährige hat nochmal ganz andere Lebenserfahrungen gesammelt als seine Peer-Kollegen. Denn bevor bei ihm eine posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen und Hypersensibilität diagnostiziert wurden, hatte er bereits eine Ausbildung gemacht und ein Studium begonnen, dieses aber schließlich abbrechen müssen. Heute arbeitet er bei Fliedner im Büroservice und unterstützt andere als Peer-Berater. „Ich musste akzeptieren, dass ich nicht so kann, wie ich will.“ Die Peer-Beratung habe ihn geerdet, sag Sebastian: „Ich habe einen anderen Blick auf mich selbst bekommen und eine neue Aufgabe gefunden.“
Mann mit Handicap berichtet: „Meine Mutter hat gesagt, du hast doch nur einen Arm“
Ein Thema, das oft an sie herangetragen wird, ist das Wohnen. Nicht wenige Behinderte erlebten, dass ihre Eltern es nicht gerne sehen, wenn sie ausziehen wollen. Oder aber andersherum: dass nämlich Menschen mit Handicap Scheu davor haben, ihr Elternhaus zu verlassen. Michael, der schon seit vier Jahren zu den Peers gehört, erzählt von einem jungen Mann, Ende 20, bei dem genau das Thema zu Spannungen führte. „Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie das damals war, als meine Mutter zu mir gesagt hat, ich könne doch nicht ausziehen, ich hätte ja nur einen Arm“, schildert der 52-Jährige kopfschüttelnd, der halbseitig gelähmt ist, unter Spastiken und Epilepsie leidet und in seiner Intelligenz eingeschränkt ist. Er habe sich nur zu gut in den jüngeren Ratsuchenden hineinversetzen können, sagt Michael und vermeldet stolz einen Erfolg: „Heute lebt er total zufrieden im Betreuten Wohnen.“
Noch nicht allzu lange eine Selbstverständlichkeit, wie die KoKoBe-Fachkräfte betonen. Denn Auswertungen des LVR zufolge lebten vor 20 Jahren knapp 80 Prozent der Empfänger von LVR-Wohnunterstützung in speziellen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung. Heute wohnten umgekehrt in Mülheim 64 Prozent der Leistungsberechtigten selbstständig mit ambulanter Unterstützung in den eigenen vier Wänden – allein, als Paar oder in einer Wohngemeinschaft. In Mülheim erhalten demnach rund 960 Menschen mit Behinderung Unterstützung beim Wohnen und im Alltag durch den LVR.
Niederschwelliger Kontakt zu Mülheimer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung
Sabrina Sunderbrink und Janina Rosendahl-Marosch, die beiden KoKoBe-Fachkräfte, registrieren ebenfalls eine grundlegende Veränderung: „Durch die Peers ist inzwischen viel mehr Akzeptanz in der Stadt da für ihre Arbeit und für ihre Belange. Es ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit, dass sie einbezogen werden.“
Weitere Infos und Kontakt zur Koordinierungs-, Kontakt- und Beratungsstelle für Menschen mit geistiger Behinderung und ihre Angehörigen (KoKoBe) mit Sitz am Berliner Platz 8, nahe der Sparkasse in Mülheim: (0208) 740 94 334 und www.kokobe-muelheim.de
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