Mülheim. Bei Mülheims Gera Chemie lässt der Arbeitgeber seinem Team freie Hand. Kann die Firma mit diesem Konzept bei der Wirtschaftspreis-Jury punkten?
Er muss tatsächlich kurz überlegen, als die Frage aufkommt, wie sie in seinem Betrieb die Vier-Tage-Woche organisieren. Fast entschuldigend antwortet Gerd Kleemeyer, Geschäftsführer der beiden Mülheimer Firmen Gera Chemie und Klemafol: „Meine Mitarbeiter organisieren so was selbstständig.“
Als der Wunsch nach einer flexibleren Verteilung der Arbeitszeit an ihn herangetragen wurde, habe er zu seinem Team gesagt: „Schaut mal, wie wir das hinbekommen können, sodass alle zu ihrem Recht kommen.“ Es habe keinen Nachmittag gedauert, da lag die Ausarbeitung zur Vier-Tage-Woche auf seinem Schreibtisch. Gerd Kleemeyer erstaunt es nicht, dass seine Mannschaft seine Bitte um ein Konzept schnell umgesetzt hat - und auch nicht, dass dieses auch noch tragfähig ist.
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Mülheimer Unternehmer stellt auch Mitarbeiter mit „schrägem Lebenslauf“ ein
Die Selbstständigkeit, das autarke Arbeiten sind die höchsten Maximen des Arbeitgebers, der wie vier weitere für den zweiten Mülheimer Wirtschaftspreis nominiert ist. Bei der Auszeichnung stehen in diesem Jahr Unternehmen im Mittelpunkt, die besonderes Engagement beweisen, wenn es um ihre Beschäftigten geht.
Mülheimer Wirtschaftspreis
Der Mülheimer Wirtschaftspreis wird in diesem Jahr zum zweiten Mal vergeben und ist mit 5000 Euro dotiert. Die Auszeichnung widmet sich jährlich einem wechselnden Motto. Vergeben wird der Mülheimer Wirtschaftspreis bei einer großen Festveranstaltung am 15. November im Luftschiffhangar der WDL am Flughafen Essen/Mülheim. Der ehemalige FIFA-Schiedsrichter, TV-Experte und Speaker Urs Meier steht an diesem Abend als Speaker auf der Bühne. Mülheimerinnen und Mülheimer, die bei der Preisverleihung dabei sein möchten, können sich Tickets (35 Euro/Person inkl. Speisen & Getränke) über die Internetseite der Wirtschaftsförderung sichern.
Kleemeyers schönster Lohn für seinen Vertrauensvorschuss: die Loyalität seiner zwölf Mitarbeitenden, zu denen auch solche zählen, die wohl auf dem ersten Arbeitsmarkt kaum Chancen hätten, mit einer Einschränkung kommen oder einem „schrägen Lebenslauf“, wie der Geschäftsführer es nennt. Ihn interessiert nur, was am Ende rauskommt, dass die Produkte in gewünschter Qualität pünktlich beim Kunden sind.
Dass sie nun durch die Nominierung im Fokus stehen, sich beim Unternehmensrundgang einer Entourage von Besuchern gegenübersehen, von Barbara Yeboah, der Geschäftsführerin der Kreishandwerkerschaft und Mitglied der Wirtschaftspreis-Jury dabei in ein Gespräch verwickelt, zudem von der Reporterin befragt werden, das ist eigentlich nicht so ganz ihr Ding - das weiß ihr Chef sehr genau: „Hier sind alle seit Wochen schon tierisch aufgeregt wegen des Wirtschaftspreises und des Besuchs in unserer Firma.“
Für den Mülheimer Wirtschaftspreis nominiert: Bester Arbeitsplatz der Welt?
Im Rampenlicht zu stehen, scheint ihnen unangenehm - dabei leisten sie hier Beachtliches, sind mit ihrem gerade einmal ein Dutzend Köpfe starkem Team Weltmarktführer. Hoch spezialisierte Produkte stellen sie im Hafengebiet an der Elbestraße her. Vielleicht sind Sie ja heute schon über genau solch ein Teil gelaufen: etwa über Estrich, der an seinen Rändern mit der Trittschalldämmung von Gera Chemie versehen ist, oder über die Höhenausgleichsplättchen, die in sogenannten Doppelböden verbaut werden. „In jedem vierten Gebäude liegt ein Teil von uns“, weiß Gerd Kleemeyer.
Eine, die ihren Arbeitsplatz für den besten der Welt - oder wenigstens Mülheims - hält und Gerd Kleemeyer als Chef sehr schätzt, ist Evgenia Krok. Bereits seit zwölf Jahren arbeitet die 42-Jährige bei Gera Chemie. Damals, als sie in der Firma anfing, war sie alleinerziehende Mutter von zwei kleinen Töchtern. Dass sie dort die Chance auf einen Berufseinstieg bekam, nachdem sie alleine mit ihren Kindern aus Russland nach Deutschland ausgewandert war, dass sie sogar eine Ausbildung - in Teilzeit mit angepasster Arbeitszeit - absolvieren konnte, verdankt sie ihrem Chef. „So konnte ich die Kinder zur Kita und in die Schule bringen und nach der Arbeit wieder abholen.“
Heute sind ihre Töchter 19 und 16 Jahre alt, Evgenia Krok ist nach wie vor fester Bestandteil des Gera-Teams. Mehr noch: Für die 42-Jährige hat sich die Firma aus einem weiteren Grund als Glücksgriff erwiesen: Bei der Arbeit lernte sie ihren heutigen Mann kennen. Dass ihr Chef ihnen immer zum Jahresende eine Pause gönnt und über Weihnachten und den Jahreswechsel Betriebsferien verhängt, „egal ob einer noch zehn Tage Urlaub hat oder gar keinen mehr“, dass er ihnen also die freien Tage schenkt, sorge nicht nur für stressfreie Feiertage, sondern nachhaltig auch für einen Motivationsschub.
Bei Mülheimer Firma arbeitet Belegschaft größtenteils autonom
Ihr Chef sagt über seine langjährige Mitarbeiterin Evgenia Krok: „Sie ist zur Führungskraft aufgestiegen, arbeitet als Teamleiterin.“ Auch das ein Beweis seines Vertrauens in seine Belegschaft. In ihrer Funktion kann sich die zweifache Mutter heute gut in die jüngere Kollegin hineinversetzen, die jetzt - genau wie sie damals - kleine Kinder und Job unter einen Hut bringen muss. Dass das im Arbeitsalltag funktioniert, auch das regeln sie selbstständig im Team. Chef Kleemeyer hält sich raus - es sei denn, sein Rat ist gefragt.
Das persönliche Miteinander und das gute Arbeitsklima schätzt auch Martin Reiss. Seit 2008 ist er schon bei der Tochterfirma Klemafol, die nur eine Halle weiter beheimatet ist. Der 59-jährige Produktionsleiter hebt einen Pluspunkt seines Arbeitgebers hervor - die Autonomie: „Der Chef lässt einen alleine wurschteln, erwartet dann aber auch, dass das Ergebnis stimmt.“
Mülheimer Chef über seine Mitarbeitenden: „Ich könnte das nicht so gut wie sie“
So fahren sie gut bei Gera Chemie - seit Kleemeyer den Betrieb 2001 übernommen und die Führungsstruktur verändert hat. „Als ich kam, gab es hier einen Häuptling und viele Indianer. Aber so wollte ich nicht arbeiten, nicht so mit Menschen umgehen.“ Also flachte er Hierarchien ab, überließ der Belegschaft mehr und mehr Verantwortung. Heute sagt er: „Sie sind die Fachleute in ihrem Bereich, ich könnte das nicht so gut wie sie - und ich schäme mich nicht dafür, das zu sagen. Dafür kann ich andere Sachen besser.“
Dass er seine Mitarbeiter autark arbeiten lässt und ihnen Freiheiten einräumt, er sich selbst obsolet macht, wie Kleemeyer es nennt, dankt das Team ihm mit Loyalität und Unternehmenstreue: „In den knapp 24 Jahren, in denen ich hier bin, haben nur zwei Kollegen gekündigt - einer, weil er Berufsschullehrer geworden ist, und einer, weil er in ein Labor gegangen ist.“ Das kann Jennifer Kutz aus der Buchhaltung bestätigen: „Wir haben so gut wie keine Fluktuation.“ Sie selbst ist fast so lange da wie der Chef: seit 23 Jahren. „Man kommt sich hier nicht vor wie eine Nummer, sondern so, als wären wir unser eigener Chef.“ Allein deswegen fühlten sie sich schon wie Gewinner.
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