Hattingen. Im Paul-Gerhardt-Haus in Hattingen schlugen Gläubige den Nazis ein Schnippchen. Welperaner teilen Erinnerungen, die sie mit dem Haus verbinden.
Vor dem Altar im 100 Jahre alten Paul-Gerhardt-Haus in Hattingen-Welper gibt es eine Verankerung für Turngeräte. Das ist ungewöhnlich. Die Gründe dafür.
Mit dem evangelischen Paul-Gerhardt-Haus ist Erich Wiggers aufgewachsen. Mit vier Jahren besuchte er hier an der Marxstraße 23 den Kindergarten. Der war damals im kleinen Saal untergebracht. Erich Wiggers ging hier zur Konfirmation, spielte im Posaunenchor, war Zahlmeister dieser evangelischen Gemeinde. Jetzt schreibt er die Chronik zum 100-jährigen Bestehen des sehr flexiblen Hauses.
Erich Wiggers und Andrea Tiggemann Hattingen: „Paul-Gerhardt-Haus ist unser zweites Zuhause“
Denn eigentlich ist im Paul-Gerhardt-Haus schon damals umgesetzt, was viele Kirchen nun nach und nach werden: ein multifunktionaler Ort. Eine Verankerung vor dem Altar macht es möglich, Turngeräte aufzustellen. So konnten sich damals nicht nur Kindergarten-Kinder sportlich betätigen, sondern in der Nazi-Zeit war das eine Möglichkeit, den Nazis ein Schnippchen zu schlagen: „Die Gläubigen mussten nicht in einen gleichgeschalteten Turnverein, sondern konnten in ihrer Gemeinde turnen. Das war eine stille Form von Widerstand“, meint Uwe Crone, Pfarrer im Ruhestand.
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Er erwähnt, dass einst auch der CVJM-Handballverein hier eine Heimat hatte. „Gegenüber, wo jetzt Häuser stehen, war ein Sportplatz. Unter der Sakristei sind noch die Duschen.“ Als Abstellraum werden sie heute genutzt.
Uwe Crone legt beim Tapetenabkratzen in Hattingen einen historischen Schriftzug frei
Der Kindergarten jedenfalls zog in den 1954 errichteten Anbau - und Uwe Crone erinnert sich noch gut, wie er später beim Tapetenabkratzen in dem Neubau im Zuge von Renovierungsarbeiten einen Schriftzug des Kindergartens freilegte: „Weist die Kinder und das Werk meiner Hände zu mir!“ - ein Bibelvers aus dem Buch Jesaja.
Die Entstehung des Paul-Gerhardt-Hauses, dessen ökologische Sanierung 1997 abgeschlossen war, wäre heute so nicht möglich, sagt Erich Wiggers: „Das Prebyterium begrüßte den Bau zwar, hatte aber überhaupt kein Geld. Sie haben angefangen zu bauen, ohne Geld zu haben.“
Gespendete Ziegel kommen per Straßenbahn zur Marxstraße
Und das ging so: Die Hütte spendet Ziegel eines abgerissenen Gebäudes, die kommen per Straßenbahn zur Marxstraße. Freiwillige klopfen den Mörtel ab. „Das muss damals ein wahnsinniger Spirit gewesen sein, das ist unvorstellbar“, sagt Andrea Tiggemann aus dem Presbyterium.
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Spenden kamen zusammen, es wurde gebaut, wenn Geld da war, Gläubige stellten ihre Arbeitskraft und ihr Fachwissen zur Verfügung - und nach einem guten Jahr war der Bau fertig. Eine verrückte Idee sei der Bau gewesen, meint Andrea Tiggemann. Crone ergänzt: „Und ein gesegnetes Projekt.“
Musik war im Paul-Gerhardt-Haus prägend
Musik hat seit jeher im Paul-Gerhardt-Haus - oder kurz PGH - eine Heimat, weiß Kirchenmusiker Martin Speck aus dem Presbyterium. „Die Musik war prägend hier, auch wenn der Raum keinen besonderen Klang hat.“ Pfarrer Crone war gegenüber Musik sehr aufgeschlossen. Zwei Chöre, Kindermusical und und und. „Das ist ein Alleinstellungsmerkmal für das Haus im Kirchenkreis“, so Andrea Tiggemann.
Auch der Chor der Gemeinde wird übrigens 100 Jahre alt. Er wurde 1924 gegründet, trat erstmals - so legen Wiggers Recherchen nahe - Karfreitag 1925 auf. „Meine Oma sagte, hier sei schon beim Bau des Hauses gesungen worden“, erzählt Andrea Tiggemann. Während Corona sangen Menschen draußen. Und heute gibt es Mitsing-Abende.
Andrea Tiggemann: „Mein Leben ist eng mit dem Paul-Gerhardt-Haus verknüpft“
Andrea Tiggemann (51) verbindet viele Erinnerungen mit dem Paul-Gerhardt-Haus, das ab 1989 für längere Zeit Aussiedler und Flüchtlinge beherbergte - sogar aus Sri Lanka. „Für mich ist das hier ein zweites Zuhause“, sagt sie wie Erich Wiggers. An die Taufe kann sie sich nicht erinnern, aber dann: Konfirmation, sie sang in zwei Chören, wurde hier getraut, ist jetzt im Presbyterium. „Ich bin da reingewachsen und nicht wieder weggekommen. Mein Leben ist eng mit dem Paul-Gerhardt-Haus verknüpft“, sagt die 51-Jährige.
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Erinnerungen von noch lebenden ehemaligen Pfarrern werden die Chronik ergänzen. „Bis auf einen leben noch alle“, so Crone. Es wird Interviews mit einer ehemaligen und der aktuellen Küsterin geben, dazu Grußworte. Zwischen 15 und 20 Euro soll die Chronik voraussichtlich kosten.