Gelsenkirchen. Gelsenkirchener ruft nach Hilfe: SPD-Fraktionschef warnt vor sozialem Unfrieden, fordert Bundesmittel und unterstreicht Bemühungen der Stadt.
„Wir brauchen dringend Hilfe. Der soziale Frieden in Gelsenkirchen ist massiv gefährdet“. Das ist die Kernbotschaft eines Briefes des Fraktionsvorsitzenden der Gelsenkirchener SPD im Stadtrat, Axel Barton, an Bundeskanzler Olaf Scholz. Barton, der eigentlich für seine eher ruhige Art bekannt ist, lädt den Kanzler darin nach Gelsenkirchen ein, um sich selbst ein Bild davon zu machen, warum „viele Gelsenkirchener nicht mehr so recht an eine gute Zukunft glauben.“
In dem mehrseitigen Schreiben erinnert der Kommunalpolitiker dabei an die Leistungen Gelsenkirchens, die bundesweit während des Wirtschaftswunders gerne angenommen worden seien und beklagt, dass das Interesse und die Aufmerksamkeit an der Stadt „im Zuge des Strukturwandels aber immer geringer geworden sind.“
100 Millionen Euro für Unterbringung und Integration
Dabei seien die Probleme in Gelsenkirchen nicht zuletzt auch durch Entscheidungen von Bund, Land und EU immer größer geworden. Der SPD-Politiker zählt auf, dass derzeit allein 16.840 Schutzsuchende in Gelsenkirchen leben, dazu kommen 12.227 Zugezogene aus Bulgarien und Rumänien, mit allen bekannten Herausforderungen für die Nachbarschaften. Vielerorts klagen Gelsenkirchener darüber, dass ihre Quartiere im Müll versinken, Lärmbelästigungen und rücksichtsloses Verhalten durch südosteuropäische Nachbarn eher die Regel als die Ausnahme sind.
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Barton unterstreicht, dass im kommenden Jahr 100 Millionen Euro aus dem städtischen Haushalt für Flüchtlinge und Zuwanderung ausgegeben werden müssen, und fordert, dass sich Bund und Land noch viel mehr an der Finanzierung beteiligen müssten. Ein Wunsch, der so unisono aus vielen Städten zu hören ist, unabhängig von den jeweils wirkenden politischen Mehrheitsverhältnissen vor Ort.
Gelsenkirchen stehe nicht zuletzt bei diesem Thema aber besonders unter Druck. Zumal der Zuzug massive Auswirkungen auf viele weitere Lebensbereiche der Bürger in der Stadt habe, die ohnehin schon vielfach mit immensen Integrationsherausforderungen belastet sind.
So erinnert Barton daran, dass mindestens acht neue Schulen gebaut werden müssen, Sanierungen noch gar nicht inbegriffen. Gleichzeitig, so der Sozialdemokrat, „hat sich das Lernen und das Lehren an Gelsenkirchener Schulen massiv zum Negativen verändert.“ Die vergleichsweise sehr hohe Quote an Schulschwänzern erschweren die Integration, obendrein hemmen Sprachbarrieren das Lerntempo, während es zu wenig Lehrer gibt und die Unterrichtsausfallquote hoch sind, zitiert Barton aus Berichten der WAZ Gelsenkirchen.
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„Wenn in Schulkassen nur zwei Kinder ausreichende Deutschkenntnisse haben, kann eine einzelne Lehrkraft keinem der Kinder gerecht werden. Die kommende Generation wird gänzlich um Bildungschancen gebracht. Bei einem Anteil von Schülern mit Zuwanderungsgeschichte von 60,9 Prozent ist dieses Szenario nicht an den Haaren herbeigezogen“, adressiert Axel Barton eine deutliche Mahnung an den Bundeskanzler.
Wachsendes Unbehagen vieler Bürger in Gelsenkirchen
Der Fraktionsvorsitzende der Gelsenkirchener SPD macht in seinem Brief auch klar, wozu diese Voraussetzungen gepaart mit hoher Arbeitslosigkeit und weniger guten Schulabschlüssen auch führt: „Zu einem massiven Druck für Jugendamt wegen viel zu hoher Fallzahlen.“
Dass in dieser Gemengelage auch der Boden bereitet ist, für ein wachsendes Unbehagen vieler Bürger und einem „Sicherheitsempfinden, das sich in den vergangenen Jahren massiv verschlechtert hat“, seien Punkte, denen sich die Kommune mit ihren begrenzten Mitteln ebenso entgegenzusetzen versuche, wie bei vielen anderen Missständen in der Stadt.
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Am Ende aber, so resümiert Barton, reichen die Mittel nicht aus, auch wenn das städtische Personal sogar aufgestockt worden sei, wie beim Kommunalen Ordnungsdienst oder dem Jugendamt. Auch die Mülldetektive kämen bei 200 bis 300 illegalen Müllkippen pro Woche nicht ansatzweise hinterher, unterstreicht der Bueraner, warum Gelsenkirchen auf die Hilfe der Bundespolitik hofft.
Barton fügt hinzu: „Der Müll hat ein nicht zu ertragendes Maß angenommen. Die Menschen sind zu Recht frustriert, wütend und hilflos. Das gefährdet den sozialen Frieden in der Stadt.“ Und es kostet die klamme Stadt viel Geld. Nach WAZ-Recherchen fallen für Personal, Fahrzeuge und Geräte sowie die Entsorgung der Abfälle jährlich Kosten von mindestens 1,5 Millionen Euro an.
SPD-Kommunalpolitiker fordert: Gesetze gegebenenfalls verschärfen
Barton spricht auch von Gesetzesänderungen mit Blick auf die Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union und verweist dabei auf die Kontrollergebnisse des viel beachteten Interventionsteams EU-Ost der Stadt und ihrer Partner. „Die Kontrollen zeigen jedes Mal, wie weit die geltenden Regeln und Gesetze teilweise ausgehöhlt werden“, so Barton, der das nicht mehr länger hinnehmen will.
Zuletzt hatte auch Oberbürgermeisterin Karin Welge abermals die Bundespolitik aufgefordert, die Gesetze so nachzujustieren, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht weiter ein auch ein Einfallstor in die Sozialsysteme bleibt.
Bei all diesen Entwicklungen sinke die Lebensqualität der Menschen in der Stadt immer mehr – und das, obwohl Gelsenkirchen unter anderem mit dem Zoo, der Veltins Arena und Konzerten von Weltstars und internationalen Fußballturnieren, den vielen Grünflächen, dem Musiktheater so viel zu bieten habe und jedes Jahr auch von zig Tausenden Menschen besucht werde.
„Gelsenkirchen wurde mit den Folgen des Strukturwandels faktisch allein gelassen“
Dass Gelsenkirchen angesichts dessen auch noch zunehmend vom Fernverkehr abgekoppelt werde, ist aus Bartons Sicht ein grober Fehler. Der Kommunalpolitiker äußert seine Enttäuschung darüber ebenso wie darüber, dass Gelsenkirchen mit den „Folgen des Strukturwandels faktisch allein gelassen wurde. Stattdessen fließen Investitionsförderungen und Ansiedlungen von Forschungsinstituten, Behörden etc. eher in den Osten und die Rheinschiene, als ins nördliche Ruhrgebiet.“ In der Folge müssten in Gelsenkirchen auch längst notwendige Sanierungen an Straßen und Schulen, Schwimmbädern und Kultureinrichtungen ausbleiben.
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Nicht zuletzt beklagt Barton in seinem Brief Olaf Scholz auch, dass die Unterstützung von Bund und Land beim Kauf und Abriss von Schrottimmobilien zwar „nach einem großen Wurf klingt“ (Zur Erinnerung: Gelsenkirchen soll bis 2027 insgesamt bis zu 100 Millionen dafür erhalten, Problemimmobilien vom Markt nehmen zu können). „Aber schon nach zwei Jahren sehen wir, dass die Summen bei weitem nicht zur Verfügung gestellt werden. Obwohl Bedarf und Leistungsfähigkeit der Stadtverwaltung noch größere Summen rechtfertigen würden“, so Barton, der schließlich den Kanzler nach Gelsenkirchen einlädt, um sich selbst ein Bild davon zu machen, welche Unterstützung die Stadt braucht.