Gelsenkirchen. Armutsmigration: Aus Gelsenkirchen kommen konkrete Vorschläge zur Problembewältigung. Warum das Innenministerium skeptisch reagiert.
Mit konkreten Gesetzesvorschlägen zur Bewältigung der Probleme, die in Gelsenkirchen durch die „Armutsmigration“ aus Rumänien und Bulgarien entstanden sind, hatte sich Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) an Bundesinnenministerin und Parteikollegin Nancy Faeser gewandt. Auf WAZ-Nachfrage antwortet Faesers Ministerium zurückhaltend auf die Vorschläge zu den Änderungen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die seit mittlerweile zehn Jahren auch uneingeschränkt für Rumänien und Bulgarien gilt.
Der Kern von Welges Vorschlag, den sie Faeser per Brief unterbreitete: Das Recht sollte so geändert werden, dass EU-Bürger als Arbeitnehmer nur dann freizügigkeitsberechtigt sind, wenn sie sich tatsächlich zum Zwecke der Aufnahme einer Arbeit in Deutschland aufhalten wollen – eine Arbeit wohlgemerkt, mit der sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Bedarfsgemeinschaft sichern können. So soll unterbunden werden, dass ein einzelnes Familienmitglied einer Großfamilie nur eine geringfügige Beschäftigung annimmt und der Lohn für die Existenzsicherung der Familie ansonsten erheblich mit Bürgergeld aufgestockt wird – „Sozialleistungsfreizügigkeit“ statt Arbeitnehmerfreizügigkeit nennt man das im Hans-Sachs-Haus.
Innenministerium: Bund unterstützt Städte wie Gelsenkirchen bereits deutlich bei Sozialausgaben
„Die Sachlage ist hier bekannt. Frau Welge wurde vom Bundesministerium des Innern und für Heimat eine Hilfestellung angeboten“, teilte ein Ministeriumssprecher mit – um folgend jedoch zu betonten, dass nicht eine Kommune wie Gelsenkirchen selbst, sondern der Bund bereits jetzt „ganz überwiegend“ die Soziallasten von EU-Bürgern trage. Denn schließlich würden Sozialleistungen für diese nicht zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen, so wie das etwa bei den Renten der Fall sei. Bei den Renten werden die Ansprüche aus allen europäischen Ländern, in denen man gearbeitet hat, zusammengezogen. Bei Sozialleistungen gibt es so ein System nicht. Der Bund komme aber dafür auf, so die Botschaft des Ministeriums.
Tatsächlich übernimmt der Bund in NRW aktuell auch über 70 Prozent der sogenannten Kosten der Unterkunft (KdU), also den Mieten und Heizkosten für Bürgergeld-Empfänger, zu denen auch viele Rumänen und Bulgaren gehören. Realität ist aber auch, dass die Stadt Gelsenkirchen für 2024 mit einem kommunalen Eigenanteil von 65 Millionen Euro bei den KdU rechnet. Und ohnehin bilden die in vergangenen Jahren rapide gestiegenen Transferaufwendungen insgesamt fast die Hälfte der Gesamtausgaben in Gelsenkirchen (rund 676 Mio. Euro).
Vorschlag aus Gelsenkirchen: Gesetzesänderung laut Ministerium „kaum aussichtsreich“
Mittlerweile ist der Redaktion auch bekannt, wie Faeser offiziell auf Welges Ersuchen geantwortet hat. Sie sei überzeugt davon, dass die Freizügigkeitsvermutung – also der grundsätzliche Glaube daran, dass EU-Bürger erst einmal die Kriterien für ihre Freizügigkeit erfüllen – Kommunen wie Gelsenkirchen auch deutlich entlaste, da eben nicht jeder Fall einzeln administriert werden müsse. In den Freizügigkeitsregeln stecke also auch ein gewisser Pragmatismus.
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Sowohl Faeser als auch ihr Ministeriumssprecher machen zudem auf den hohen Stellenwert des Freizügigkeitsrechts aufmerksam. Definiert ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit über das ranghöchste Recht der Europäischen Union – das Primärrecht. Gesetzesänderungen wie von OB Welge vorgeschlagen seien schon „primärrechtlich zweifelhaft“ und damit „kaum aussichtsreich“, heißt es aus der Pressestelle des Ministeriums.
Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger wie Rumänen und Bulgaren können ihr Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verlieren, aber das Ausländeramt kann auch dann eine sogenannte „Verlustfeststellung“ aussprechen, wenn sich beispielsweise nicht um Arbeit bemüht wird. Der Prozess, insbesondere die Umsetzung der Ausreisepflicht, die am Ende der Verlustfeststellung steht, gilt jedoch als langwierig und schwierig. Faeser und ihr Ministerium heben hervor, dass eine solche Verlustfeststellung jährlich ja nur 0,02 Prozent der Menschen mit EU-Bürgerschaft in Deutschland treffe. Offen ist natürlich, wie viel höher der Anteil wäre, sollten härtere Regeln wie aus Gelsenkirchen gefordert gelten.