Gelsenkirchen. Integrationshelfer berichten, dass nigerianische Frauen aus süddeutschen Städten nach Gelsenkirchen ziehen – und erkennen „Fehler im System.“
Es geht um Mütter, die vor allem aus den Kommunen und Gemeinden Bayerns kommen – und häufig mit beträchtlichen Schulden belastet sind: Die Wohlfahrtsverbände Gelsenkirchens berichten übereinstimmend, dass in den vergangenen Monaten verstärkt nigerianische Frauen von Süddeutschland nach Gelsenkirchen ziehen, weil sie auf dem vergleichsweise immer noch weitaus entspannteren Immobilienmarkt in der Emscherstadt eine geeignete Wohnung finden. Mit dabei haben sie aber oft eine erhebliche finanzielle Last. Warum die sozialen Träger in Gelsenkirchen sagen: „Hier funktioniert das System einfach nicht.“
Liliane Wandji, Sozialarbeiterin beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) und aktiv in der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer (MBE), betreut gegenwärtig rund 60 Klientinnen, „vor allem nigerianische Frauen mit Kindern“, erzählt sie. Menschen mit Asylhintergrund aus dem westafrikanischen Staat haben oft schlechte Chancen, als Flüchtling in Deutschland anerkannt zu werden. Dennoch haben die oft alleinerziehenden Frauen, von denen Wandji spricht, ein gesichertes Aufenthaltsrecht, etwa weil sie ein Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit haben. Ergo können sie sich frei in Deutschland bewegen, eine Wohnsitzauflage besteht nicht.
Eine Gemeinsamkeit, die viele von Wandjis Klientinnen zudem eint: „Viele von ihnen ziehen aus Bayern und Baden-Württemberg hierher.“ Gelsenkirchen würde sich dort nicht nur aufgrund der günstigen Mieten herumsprechen, auch gebe es hier mittlerweile eine größere nigerianische Community. Im Vergleich zu Städten wie Oberhausen, Essen oder Mülheim ist diese in Gelsenkirchen zwar immer noch vergleichsweise klein, Wandji weiß aber, dass es in Stadtteilen wie Hassel trotzdem eine gefestigte Gemeinschaft gibt. Nur ist das Problem: Der Umzug werde oft nicht so über die Bühne gebracht, wie es die deutsche Bürokratie vorschreibt.
„Die Frauen leben meist vom Jobcenter. Sie sagen dann aber in Bayern oder Baden-Württemberg nicht Bescheid und melden sich nicht entsprechend ab“, erzählt Wandji. Wenn das Jobcenter dann erfährt, dass die Frauen umgezogen sind, kann es die zu Unrecht gezahlten Mieten für die alte Wohnung zurückfordern. Diese Rückforderungen können dann zu erheblichen Schulden führen, da möglicherweise über Monate hinweg doppelte Mieten verursacht wurden.
Mietschulden aus Bayern per Jobcenter-Darlehen in Gelsenkirchen abbezahlen: „Schön schräg“
Wandji macht dafür auch eine mangelnde Betreuung verantwortlich: „Es gibt in den Städten, aus denen die Frauen kommen, offenbar keine so umfassende Sozialbetreuung wie hier. Die Frauen erhalten dann die Strafe dafür, dass sie nicht informiert werden.“ Wandji macht aber auch keinen Hehl daraus, dass es sich bei den Damen in Sachen Integration nicht um die einfachste Gruppe handelt. „Es sind Frauen, die ziemlich zurückgezogen leben“, sagt sie.
Die Stadt Gelsenkirchen bestätigt über ihren Stadtsprecher Martin Schulmann, dass die Zuzüge insbesondere aus Bayern bei den nigerianischen Zuwanderern in der Tat eine gewisse Auffälligkeit haben. Im Vergleich zur gesamten Migrationsbewegung nach Gelsenkirchen handele es sich jedoch um ein vergleichsweise kleinteiliges Phänomen.
Eines jedoch, das man auch beim Diakonischen Werk gut kennt. Und auch Michael Niehaus, Teamleitung der Flüchtlingshilfe bei der Caritas, kennt das Thema. Er weiß, dass die Frauen, um die es geht, in Süddeutschland häufig noch in Sammelunterkünften leben, weil es dort an bezahlbaren Wohnungen mangelt. Wenn sie nun aufgrund ihres gesicherten Aufenthaltsstatus in einen anderen Rechtskreis wechseln, also vom Asylbewerberleistungsgesetz ins Bürgergeld wechseln und ihre Leistungen nicht mehr vom Sozialamt, sondern vom Jobcenter erhalten, dann gilt normalerweise, dass sie die Kosten für ihre Unterkunft beantragen müssen – egal, ob es sich um eine Wohnungsmiete oder die Unterbringungskosten im Flüchtlingsheim handelt.
„Und irgendwann, wenn die Frauen dann schon in Gelsenkirchen wohnen, bekommen sie dann einen Brief aus Bayern, der ihnen die Kosten der Unterkunft für mehrere Monate in Rechnung stellt“, erzählt Niehaus. „Dann können sie hier beim Jobcenter in Gelsenkirchen schauen, ob sie ein Darlehen bekommen, um Mietschulden aus Bayern abzubezahlen“, so der Integrationsfachmann. „Da wird es schon richtig schräg.“
Flüchtlingshelfer in Gelsenkirchen: „So laufen Dinge aus dem Ruder“
Auch Niehaus wirft den süddeutschen Behörden hier eine gewisse Unachtsamkeit vor. „Gerade, wenn die Leute noch in einer Unterkunft leben, sollte man sich um so etwas kümmern. Wir haben hier in Gelsenkirchen überall Fachleute in den Unterkünften, die Beratung geben, die wissen, was bei einem Rechtskreiswechsel zu tun ist. Das müsste woanders ebenfalls mit einer gewissen Selbstverständlichkeit geschehen“, meint er. Wenn Menschen frühzeitig an die Hand genommen werden und dort nicht alleine gelassen werden, wo die deutsche Bürokratie selbst für Einheimische schwer zu verstehen ist, dann sei auch ein guter Start bei der Integration möglich. „Aber wenn das am Anfang schon zu kurz kommt, dann laufen Dinge aus dem Ruder.“
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„Wir schauen dann, dass wir verträgliche Ratenzahlungen vereinbaren können“, erzählt Liliane Wandji vom DRK, wissend, dass jeder zusätzliche Euro für die Frauen im Bürgergeld ohnehin schwer wiegt. „Das belastet die Frauen natürlich sehr“, erzählt sie. Eine ihrer Klientinnen würde regelmäßig vor einem Supermarkt betteln. „Und natürlich hängen da auch die Perspektiven der Kinder mit dran“, ergänzt Niehaus. „Da denkt man sich: Wenn man die Leute von Anfang an vernünftig beraten würde, dann wird das was.“ Aber mit Schulden in Deutschland zu beginnen, sei für Familien der denkbar schlechteste Start in Deutschland.
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Vor dem Hinblick politischer Streitthemen wie der Altschuldendebatte, wo sich Länder wie Bayern weiter weigern, mehr finanzielle Unterstützung für strukturschwache Städte im Ruhrgebiet zu leisten, ergäbe sich bei der ganzen Sache ein besonders fader Beigeschmack, findet Niehaus. „Wir“, das betont er, „übernehmen hier Problematiken, die in Bayern entstehen.“