Gelsenkirchen. Unsere Reporter werden oft mit der Unzufriedenheit der Gelsenkirchener konfrontiert, die sich zunehmend unwohl fühlen. Ein Stimmungsbild.

Dieser Artikel erschien erstmals im November 2023.

Unmittelbar und ungefiltert wollen Polizei und Stadtverwaltung in Gelsenkirchen erfahren, was den Bürgerinnen und Bürgern in den Stadtteilen unter den Nägeln brennt. Was läuft schief, wo gibt es Verbesserungsbedarf, was sind die Ängste und Sorgen der Menschen?

Um in den Dialog zu kommen, gibt es die sogenannten Präventionsräte, die alle paar Wochen jeweils in einem Stadtteil stattfinden. Zur vergangenen Sitzung in Bismarck kamen rund 40 Bürgerinnen und Bürger. Und die meisten einte ein Gefühl, eine Sorge, derselbe Frust, die gleiche Enttäuschung: Sie fühlen sich nicht mehr wohl, nicht mehr heimisch, nicht mehr sicher – sie fühlen sich im Stich gelassen!

Massive Beschwerden und verzweifelte Hilferufe

Seit einigen Jahren berichten wir in der WAZ Gelsenkirchen immer wieder über die Probleme, die es im Stadtgebiet im Zusammenleben mit Zuwanderern gibt. Beschwerden und verzweifelte Hilferufe unserer Leserinnen und Leser haben wir aus so vielen Stadtteilen schon so oft aufgeschrieben, dass wir die Berichte dazu kaum noch zählen können.

Wir hören unseren Lesern aufmerksam zu, machen uns ein Bild vor Ort, versuchen, möglichst mit allen Beteiligten ins Gespräch zu kommen. Am Ende steht immer das gleiche Ergebnis: Viele Menschen in Gelsenkirchen mit und ohne Migrationshintergrund sind es leid, die Folgen und Konflikte zu ertragen, die der Zuzug aus Südosteuropa und aus anderen Ländern nach Gelsenkirchen mit sich gebracht hat.

Es gibt kaum einen Termin in Gelsenkirchen, bei dem unsere Reporter nicht mit der Unzufriedenheit der Menschen konfrontiert werden, die sie angesichts der „vielen Ausländer“ in der Stadt empfinden. Geht es um Bildungsthemen, dauert es nicht lange, bis die schier unlösbaren Herausforderungen unterstrichen werden, die entstanden sind, weil so viele Schüler kaum bis kein Deutsch sprechen. Geht es um die Sauberkeit und Sicherheit im Kiez (fast egal in welchem), werden schnell Beschwerden laut, dass einige Migranten ihre Hinterhöfe als Müllkippen nutzen und Jugendliche in Gruppen durch die Straßen ziehen, rauben und Angst und Schrecken verbreiten.

Geht es um Ruhestörungen, ist die Rede von „ausländischer Musik“ oder Autokorsos mit Fahnen anderer Länder. Handelt es sich um Beschwerden von Unternehmern, sind darunter oft Schilderungen über „respektlose Migranten“, die den Bereich um das Geschäft verdrecken oder Kunden verschrecken, weil sie in großen Gruppen vor dem Laden zusammenstehen. Ist die Rede von der Innenstadt, so hören wir ein ums andere Mal, dass viele diese schon deshalb meiden, weil sie sich dort als Einheimische fremd fühlen.

Die Grundstimmung in Gelsenkirchen – Was unsere Reporter erleben

In einem vielbeachteten Interview mit der WAZ Gelsenkirchen warnten im Sommer 2021 alle fünf Bezirksbürgermeister (alle SPD) gemeinsam davor, dass „die Zukunft der Stadt in Gefahr“ sei, und dass sie „manchmal das Gefühl haben, Stadtverwaltung, Berufspolitiker – auch in Land und Bund – und die einfachen Bürger leben in verschiedenen Welten“. Den Vorwurf, Stadtverwaltung und Kommunalpolitik würden sich zu sehr mit allerlei Kleinigkeiten beschäftigen, statt die größten Probleme der Stadt anzugehen, hören auch unsere Reporter immer wieder. Dass die Gestaltungsmöglichkeiten einer Kommune dabei äußerst begrenzt sind, wird dabei mitunter auch ausgeblendet. Entscheidend ist der Eindruck, der bei vielen scheinbar entsteht – und der ist fatal.

In den vergangenen Wochen und Monaten haben wir in der Redaktion zunehmend den Eindruck gewonnen, dass die Stimmung gegenüber Zuwanderern in Teilen der Stadtbevölkerung bereits gekippt ist. Das Unwohlsein, die Sorgen und die Urteile vieler Menschen sind real, unabhängig davon, ob sich ihre Wahrnehmung statistisch belegen lässt oder nicht.

Ein Bericht von WAZ-Redakteur Sinan Sat.
Ein Bericht von WAZ-Redakteur Sinan Sat. © funkegrafik nrw | Selina Sielaff

Viele sehen in Menschen mit südosteuropäischem oder arabisch-türkischem Erscheinungsbild zunächst ein potenzielles Problem. Aus zahlreichen Gesprächen mit vielen Menschen wissen wir, dass nicht wenige auch einen inneren Konflikt mit sich austragen, wenn sie sich selber dabei ertappen, dass sie Migranten inzwischen zunächst mit Argwohn betrachten. Sie tun dies meist, weil sie aufgrund der Summe ihrer Erfahrungen oder Erfahrungen aus dem Freundes- und Familienkreis, annehmen, dass ihr Gegenüber die deutsche Sprache nicht beherrscht, nicht dieselben Werte teilt – eben jemand ist, mit dem man lieber nichts zu tun haben will.

Es wäre jetzt einfach, dies als Rassismus zu abzutun, womit man die Debatte im Keim ersticken würde. Und sicher wissen die meisten auch, dass Pauschalisierungen irrational sind. Sie haben selbst in der Schule, im Verein oder bei der Arbeit schon so viele Gelsenkirchener mit Migrationsgeschichte kennen- und lieben gelernt – und dennoch ist da dieses bohrende Störgefühl tief in den Menschen, das seit einigen Jahren immer stärker geworden ist – das Gefühl, vieles, was einem einst lieb und teuer war, verschwindet oder sei bereits weg. Und irgendwie hänge es damit zusammen, dass zu viele Menschen aus anderen Kulturen hier leben.

Immer mehr Parteien haben aufgrund der wachsenden Herausforderungen bei der Unterbringung und Integration von Geflüchteten zuletzt einen Kurswechsel vollzogen und ihre Rhetorik verschärft. Der Druck aus der Mitte der Gesellschaft, dieses Unwohlsein, das so viele empfinden, wirkt sich auf die Rathäuser und in der Folge

bis ins Kanzleramt

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    aus. Nicht von ungefähr will nun sogar eine links-liberale Bundesregierung Asylverfahren verschärfen und den Zuzug nach Deutschland erschweren.

    Dahinter steckt neben der objektiven Überlastung vieler Kommunen auch die Sorge davor, dass die Stimmung im Land kippen könnte, was der AfD weiteren Zulauf bescheren könnte – einer Partei, die in Teilen als gesichert rechtsextrem eingestuft wird und die Faschisten in ihren eigenen Reihen duldet. Dies möglichst zu verhindern, ist im Interesse aller Demokraten in diesem Land. Denn die AfD mag von den wachsenden Konflikten profitieren – hat aber keine Antworten. Kein Problem wird durch das Schüren von Ressentiments gelöst. Aber wir müssen die Probleme beim Namen nennen, um sie lösen zu können.

    Es gibt keine Umfragen auf lokaler Ebene, um einigermaßen seriös sagen zu können, wo das Stimmungspendel in Gelsenkirchen tatsächlich steht. Was es gibt aber, ist die Summe der Erfahrungen, die wir als Reporter in dieser Stadt machen – und die lässt zur Zeit nichts Gutes erahnen.

    Fakt ist, es gibt keine einfachen Antworten, um diesem bohrenden Störgefühl vieler Menschen entgegenzuwirken. Es scheint, als sei für nicht wenige das Maß des Tolerierbaren erreicht. Sollte Gelsenkirchen bei der kommenden Kommunalwahl im Herbst 2025 wieder bundesweit in den Schlagzeilen stehen, weil die AfD hier ihr bestes Ergebnis in Westdeutschland erreicht hat, würde das wohl kein einziges Problem lösen, aber überraschen würde ein solches Ergebnis auch nicht.