Gelsenkirchen. Von einem „krassen Fall von Familientrennung“ spricht ein Verein bei der Abschiebung eines vollbeschäftigten Nigerianers. Die Stadt erklärt sich.

Ein Jahr, nachdem das Kölner „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ die Abschiebung einer geistig Behinderten von Gelsenkirchen in den Kosovo öffentlich anprangerte, wirft der Verein der Stadt in seinem „Abschiebungsreporting NRW“ erneut „perfides“ Vorgehen vor. Dieses Mal geht es um die Abschiebung eines 38-jährigen Vollzeit-Berufstätigen aus Nigeria. Seine Lebenspartnerin blieb dem Verein zufolge mit vier kleinen Kindern in Gelsenkirchen zurück. Für das Komitee ist das ein „besonders krasser Fall von Familientrennung.“

Abschiebung aus Gelsenkirchen nach Nigeria: Verein spricht von „schwerer Beeinträchtigung des Kindeswohls“

Dem Report nach hat das Paar drei gemeinsame Kinder (2, 5), die wie die ebenfalls ursprünglich aus Nigeria kommende Mutter Aufenthaltserlaubnisse in Deutschland haben. Das älteste Kind (7) habe die deutsche Staatsangehörigkeit, weil auch sein Vater deutsch sei. Den Kindern habe die Stadt „ihren Vater durch die Abschiebung nun seit bereits drei Monaten und auf unsehbare Zeit komplett entzogen“, kritisiert der Verein. Die Abschiebung erfolgte demnach bereits im August 2022. Für die Kölner bedeutet das „eine schwere Beeinträchtigung des Kindeswohles.“ Dabei, so die Argumentation, „müssten gemäß UN-Kinderrechtskonvention die Belange von Kindern vorrangig berücksichtigt werden“.

Auch hat sich die Stadt in Augen des Vereins „über den Vorgriffserlass der Landesregierung für ein sogenanntes ,Chancen-Aufenthaltsrecht’ hinweg gesetzt“. In dem Erlass vom 15. Juli 2022 ist festgelegt, dass die Ausländerbehörden von Aufenthaltsbeendigungen absehen können bei Menschen, die voraussichtlich unter das neue Bleiberecht fallen werden, das seit Mitte Oktober 2022 im Bundestag beraten wird. Ihre Fälle könnten „vorsorglich rückpriorisiert“ werden. Das Gesetz soll gut integrierten Ausländern die Möglichkeit geben, sich einfacher ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht zu sichern.

Der betroffene Nigerianer lebte dem Kölner Verein nach bereits seit 2015 in Deutschland. Zuletzt sei er in Vollzeit in der Metallweiterverarbeitung beschäftigt gewesen. „Die weiteren Voraussetzungen für das neue Bleiberecht erfüllte er damit“, stellt das Komitee fest. „Somit hätte er vom neuen ,Chancen-Aufenthaltsrecht’ gemäß der bisherigen Ausgestaltung profitieren und darüber ein Bleiberecht erhalten können.“ Stattdessen aber wurde er aus dem laufenden Arbeitsverhältnis abgeschoben, soll sogar eine Zeit lang in Büren in Abschiebehaft verbracht haben müssen.

Abschiebung eines Familienvaters mit Arbeitsvertrag: So erklärt sich die Stadt Gelsenkirchen

Sebastian Rose, verantwortlich für das „Abschiebungsreporting NRW“, fordert die schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf nun zum Handeln auf. „Wir erwarten von der Landesregierung, dass sie die sofortige Wiedereinreise des Mannes unterstützt, um die Familie wieder zusammenzuführen. Die Stadt Gelsenkirchen muss hierfür das bereits eingeleitete Visumverfahren des Mannes proaktiv unterstützen, die Einreisesperre aufheben und eine Vorabzustimmung erteilen.“

Viele geduldete Personen könnten profitieren

In der Stadt Gelsenkirchen leben aktuell 1056 geduldete Personen (Oktober 2022). Davon befinden sich nach einer Auswertung des Ausländeramtes 758 Personen in einem über fünfjährigen Duldungsstatus und könnten somit – zumindest aus zeitlicher Sicht – die Anspruchsvoraussetzungen des zukünftigen „Chancen-Aufenthaltsrechts“ erfüllen.

Eine „tragfähige Einschätzung“, wie viele Personen auch tatsächlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, könne im Vorfeld jedoch nicht getroffen werden.

Die Verwaltung habe aber „bereits organisatorische Vorbereitungen getroffen“, um dem erwarteten „hohen Antragseingang zu begegnen“, heißt es seitens der Stadt mit Blick auf das kommende Gesetz.

Unterstützung in Gelsenkirchen bekommen die Kölner von der linken Wählergruppe AUF. Einen Sachstandsbericht zum Chancen-Aufenthaltsrecht im Ordnungsausschuss (mehr dazu in der Infobox) nahm AUF-Mitglied Martina Reichmann zum Anlass, um bei der Verwaltung nachzufragen, warum sie den Erlass der Landesregierung bei dem so gut integrierten Nigerianer nicht heranzog. Schließlich, so Reichmann, gehe es hier um jemanden, der Familie hatte und Vollzeit beschäftigt war.

Waldemar Kinzel, Leiter der Ausländerbehörde, sagte daraufhin, dass der Erlass des Landes lediglich einen „unverbindlichen Charakter“ habe. Das heißt: Die Behörden sind nicht verpflichtet, die Regelungen des neuen Gesetzes bei der Bearbeitung der Fälle bereits zu berücksichtigen. Kinzels Vorgesetzter, Referatsleiter Hans-Joachim Olbering, ergänzte, im Einzelfall würde die Stadt den Erlass zwar anwenden – hier habe man jedoch davon abgesehen. Der Fall des Nigerianers ist laut Kinzel „unter Würdigung des Gesamtsachverhaltes bewertet worden, mit dem Ergebnis an der Abschiebung festzuhalten.“ Flankiert gewesen sei dies durch Entscheidungen des Verwaltungs-, in diesem Fall sogar des Oberverwaltungsgerichtes.

Hans-Joachim Olbering, Leiter des Referats für Sicherheit und Ordnung: „Im Einzelfall wenden wir die Ausnahmeregelungen auch an. Dann waren die Umstände aber andere als hier“, sagt er zu dem Erlass des Landes zum „Chancen-Aufenthaltsrecht“ und der Abschiebung eines Nigerianers aus Gelsenkirchen.
Hans-Joachim Olbering, Leiter des Referats für Sicherheit und Ordnung: „Im Einzelfall wenden wir die Ausnahmeregelungen auch an. Dann waren die Umstände aber andere als hier“, sagt er zu dem Erlass des Landes zum „Chancen-Aufenthaltsrecht“ und der Abschiebung eines Nigerianers aus Gelsenkirchen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Auch das „Komitee für Grundrechte und Demokratie“ macht darauf aufmerksam, dass die angerufenen Verwaltungsgerichte im Eilverfahren die Rechtsauffassung der Stadt Gelsenkirchen bestätigt hätten. „Allerdings können in Eilverfahren aufgrund der knappen Zeit nicht immer alle Belege rechtzeitig vorgelegt werden und eine faire Gesamtwürdigung der Lage unterbleibt folglich“. So sei es auch hier gewesen.

Kritisierte Abschiebung nach Nigeria: Gelsenkirchener Grüne wollen Fakten schaffen

Nigerianer haben insgesamt schlechte Chancen, ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erlangen. Die sogenannte Schutzquote, also der Anteil der positiven Asylbescheide, lag Ende 2021 für Menschen aus dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas bei rund 15 Prozent.

Die Gelsenkirchener Grünen wollen zum Thema „Umgang der Ausländerbehörde mit dem Vorgriffserlass der Landesregierung“ nun ein Dringlichkeitsantrag zum Hauptausschuss am 1. Dezember stellen. Sie wollen Fraktionschefin Adrianna Gorczyk zufolge in Erfahrung bringen, wie und ob die Rückführung des Nigerianers unterstützt werden kann. „Und wir werden Landesministerin Josefine Paul kontaktieren, um auf die Praxis in Gelsenkirchen bzgl. ihres Erlasses hinzuweisen