Gelsenkirchen. Majd Sawas und andere junge Menschen mit Fluchthintergrund in Gelsenkirchen spüren am eigenen Leib, wie sich die Stimmung gedreht hat.
In Gelsenkirchen, da werde man schnell eine Wohnung finden, sagte man Majd Sawas damals, vor über zehn Jahren, als sein Asylverfahren in Hessen abgeschlossen wurde. Und tatsächlich wurden sie hier auch schnell fündig. „Aber du kommst dann in eine neue Wohnung und hast nichts“, erzählt der heute 26-jährige Syrer. Also haben er und sein Bruder, der damals fast so alt war wie er heute, erst mal auf dem Boden geschlafen, und sich dann über Kleinanzeigen nach und nach Möbel angeschafft. Einen Tisch hat er damals in Mülheim gefunden, wie er sich erinnert. Die Brüder hatten keine andere Möglichkeit, als den in Müllsäcken eingewickelten Tisch per Zug bis nach Gelsenkirchen zu transportieren.
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Was damals eine „lustige Geschichte“ war, würde er heute keinem Menschen mit ausländischen Wurzeln mehr empfehlen. „Die Leute haben uns damals auch angeguckt, aber freundlicher; es war lockerer“, erzählt er. „Heute würde ich das nicht mehr machen, so große Sachen im Zug transportieren. Ich würde Dinge hören, die ich nicht hören will.“ Wie angespannt die Stimmung derzeit sei, erlebe er jeden Tag, bei der Arbeit, im Alltag. „Die Blicke der Leute sind einfach anders.“ Und spreche er in der Öffentlichkeit mal Arabisch am Telefon mit seiner Mutter, dann bekomme er auch mal gesagt: „Hier wird Deutsch gesprochen!“ Früher, in seinen Jugendjahren in Gelsenkirchen, „da war das ganz anders.“
Jugendmigrationsdienst in Gelsenkirchen: Junge Migranten sprechen mit Politik
Wir sprechen Majd Sawas am Rande einer Veranstaltung des Jugendmigrationsdienstes (JMD) der Diakonie in Gelsenkirchen. Die jungen Menschen mit Flucht- und Migrationsgeschichte, die die Angebote des JMD wahrnehmen, sollen hier in Kontakt kommen mit Politikern aus Gelsenkirchen. Ihre Ansprechpartner sind der Landtagsabgeordnete Sebastian Watermeier (SPD), der Bundestagsabgeordnete Markus Töns (SPD) sowie die Lokalpolitikerinnen Adrianna Gorczyk (Grüne) und Monika Kutzborski (CDU). Es soll um Themen gehen wie: Welche Probleme gibt es bei der Anerkennung von Schul- und Berufsabschlüssen? Wo hakt es beim Spracherwerb? Aber immer wieder geht es an diesem Tag auch um eines: die wachsende migrationskritische- bis feindliche Stimmung in Deutschland.
Diese macht auch Ammar Al Abid Sorgen. Der 24-Jährige hat sein Heimatland Syrien 2018 verlassen, lebte dann vier Jahre in der Türkei und kam vor zwei Jahren – per Fuß – nach Deutschland. Er besucht gerade einen B2-Sprachkurs, will bald eine Ausbildung zum Lokführer beginnen, wie er sagt. Seit dem islamistischen Anschlag in Solingen und der politischen Reaktion darauf ist er zunehmend „gestresst“, wie er erzählt. „Ein syrischer Mensch hat einen sehr großen Fehler gemacht und alle anderen syrischen Menschen bekommen das ab“, sagt er. „Das ist kein gutes Gefühl.“ Dass viele syrische Zuwanderer und islamische Menschen ausgegrenzt werden, befürchtet er jetzt. „Aber es gibt sehr viele nette Personen und wenig schlechte.“
Fariza Chabdrahmanova (20), die aus Tschetschenien kommt, aber seit ihrem siebten Lebensjahr fast nur auf Reise ist und jetzt in Gelsenkirchen ihre Heimat gefunden hat, bekommt ebenfalls mit, dass harte Migrationspolitik in Deutschland bei Wahlen mittlerweile viel mehr Zuspruch bekommt. Sie sieht darin auch eine Folge des Wahlalters, das bei der Europawahl auf 16 Jahre abgesenkt wurde. „Das sind doch noch Kinder! Die sehen, was bei TikTok und Instagram los ist und sind davon zu sehr beeinflusst“, sagt sie und bezieht sich damit auf den Erfolg der AfD auf sozialen Medien.
Syrer appelliert: „Bitte kämpft gegen die AfD!“
Wiederum seien es die sozialen Medien, die auch Geflüchtete auf dumme Gedanken bringen könnten, wenn sie – wartend auf Sprachkurse und Fortschritt in ihrem Asylverfahren – ohne Aufgabe den Tag verstreichen ließen, berichtet Syrer Majd Sawas aus seinem Umfeld. Sein Appell an die deutsche Politik: „Lasst die Leute nicht warten! Nutzt die Leute, die ihr hier habt und lasst sie nicht untätig zu Hause sitzen!“ Die deutsche Bürokratie würde oft verhindern, dass man die wahren Potenziale der Migranten und Flüchtlinge nicht erkennt. Sein Bruder sei dafür das beste Beispiel – er sei als ausgebildeter Lehrer nach Deutschland gekommen und mache heute eine Ausbildung in einem ganz anderen, weniger von Fachkräftemangel betroffenen Bereich.
Der Jugendmigrationsdienst in Gelsenkirchen
Der JMD Gelsenkirchen besteht aus drei Vollzeitstellen und betreut derzeit insgesamt 801 Jugendliche, von denen einige bereits acht Jahre in Deutschland leben und erfolgreich ihr Studium absolvieren.
Das Angebot des JMD Gelsenkirchen richtet sich an Jugendliche in Gelsenkirchen und Gladbeck und wird unterschieden in Beratung und Case Management. Beim Case Management werden Jugendliche betreut, die komplexere Probleme haben, beispielsweise finanzielle oder familiäre Probleme, oder Schwierigkeiten mit der Anerkennung ihrer Schulabschlüsse.
Auch der JMD leidet unter der Haushaltspolitik im Bund: Bundesweit fordern die Jugendmigrationsdienste, bei den Fördermitteln nicht weiter zu sparen. Schließlich sei der Bedarf an Ratssuchenden noch nie so groß gewesen wie zuletzt – 2023 wurden bundesweit 130.000 Ratssuchende registriert. Um den Status Quo für die Beratung aufrechtzuerhalten, sei eine Fördersumme von rund 73 Millionen Euro nötig.
Majd Sawas selbst studiert derzeit Maschinenbau mit Schwerpunkt Energie- und Verfahrenstechnik an der Ruhr-Uni in Bochum. Gerade schreibt er seine Abschlussarbeit, nebenbei kümmert er sich im Job um die Zertifizierung von Elektrogeräten. Aus ihm wird eine qualifizierte Fachkraft, die nicht nur in Deutschland gesucht wird. Deshalb hat er auch einen Appell an die Politiker, mit denen er heute spricht: „Bitte kämpft gegen die AfD!“ Sonst werde er sich in Deutschland nicht mehr wohlfühlen können. „Ich will natürlich gerne hierbleiben, habe Deutsch nicht umsonst gelernt und möchte zurückgeben, was ich bekommen habe. Aber wenn die AfD regiert, dann ist es woanders für mich vielleicht besser.“