Essen. Im Essener Süden sind Eigentümer großer Grundstücke von extremen Steuererhöhungen betroffen. Der Unmut entlädt sich bei den örtlichen Politikern.

Als am 7. Januar die Grundabgabenbescheide an die Essener Haushalte gingen, stand bei CDU-Ratsherr Dirk Kalweit das Telefon nicht mehr still. Es war der Tag, an dem vielen Immobilienbesitzern erstmals bewusst wurde, dass sie nach der Reform deutlich mehr Grundsteuer zahlen sollten. In Extremfällen müssen Eigentümer von Grundstücken in Essen über 30.000 Euro mehr an Steuern zahlen. Vor allem große unbebaute Flurstücke trifft es. Die Stadtkämmerei selbst spricht von den „Sorgenkindern“ der Reform.

Bei Kalweit, Ratsherr für die südlichen Stadtteile Kupferdreh und Byfang, entlud sich der Ärger tagelang. Denn was der CDU-Mann, der unter anderem in Gremien des Städtetages sitzt, längst geahnt hatte, zeigte sich nun schwarz auf weiß: „Wir sind hier im ländlichen Bereich besonders betroffen.“

Was die Leute in seinen Stadtteilen auf den Baum bringt, nennt Kalweit „systemimmanent“. Das heißt: Die Grundsteuerreform ist politisch so gewollt. In der eher ländlich geprägten Region gebe es vergleichsweise große, unbebaute Grundstücke, die aber vom Finanzamt bewertet würden, als wenn es sich um Bauland handeln würde. Was es aber faktisch nicht sei. Viele Grundstücke liegen im Landschaftsschutzgebiet, manche gar im Naturschutzgebiet. Bauen wird dort nie möglich sein. „Manche Hauseigentümer hier müssen sogar darum kämpfen, wenn sie ihren Dachboden ausbauen wollen“, umreißt Kalweit die strikten Vorgaben des geltenden Baurechts. Seit Jahren will die örtliche CDU in Byfang einen Bebauungsplan aufstellen. Bislang scheiterte das am Veto der Bezirksregierung.

Extreme Fälle in Essen: Grundsteuer steigt um mehr als 3000 Prozent

Im eher dünn besiedelten Byfang scheint es vergleichsweise viele Fälle zu geben, bei denen die Grundsteuer enorm angestiegen ist - absolut wie relativ. Diese Redaktion berichtete bereits von einem Ehepaar, das am Nöckersberg wohnt und nun 18.200 Euro im Jahr zahlen soll. 3225 Prozent mehr. Kalweit kennt mehrere solcher extremen „Ausreißer“ in der Nachbarschaft. Es treffe dabei auch Ältere, die sich das von ihrer Rente gar nicht leisten könnten und die mit der Situation momentan völlig überfordert seien.

Der Stadtteil Byfang, im Zentrum die Kirche St. Barbara, gehört zu den eher ländlich geprägten Stadtteilen von Essen.
Der Stadtteil Byfang, im Zentrum die Kirche St. Barbara, gehört zu den eher ländlich geprägten Stadtteilen von Essen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Einmal im Monat lädt der CDU-Politiker zu einem Bürgerdialog ein. Am Dienstagabend (28.1.) ging es um die Auswirkungen der Grundsteuerreform. Zu Gast waren Essens Kämmerer Gerhard Grabenkamp und der Leiter des Stadtsteueramtes, Ralf Macher. Dass der Raum im St. Josef Quartier in Kupferdreh bis auf den letzten Platz gefüllt war, einige Besucher sogar auf Tischen Platz nehmen mussten, dürfte Kalweit sicher nicht überrascht haben.

Essener Baurechtsexperte übt Generalkritik an Grundsteuerreform

Im Publikum saß auch Gerd-Ulrich Kapteina, als Rechtsanwalt spezialisiert auf Fragen des Bauplanungs- und Bauordnungsrechts, früher Richter am Verwaltungsgericht Düsseldorf. In Essen ist Kapteina öffentlich bekannt als Sprecher des Arbeitskreises Essen 2030, ein beratendes Gremium in Sachen Architektur und Stadtkultur. „Mich bedrückt diese Situation sehr“, betonte er am Dienstagabend. Es sei für ihn nicht nachvollziehbar, dass ein seit Jahrzehnten geltendes Baurecht „keinen Eingang ins Steuerrecht findet“. Es war eine Generalkritik an der Reform: Wenn es sich nicht um Bauland handelt, dürfe es steuerlich so auch nicht behandelt werden. „Mir ist dabei bewusst, dass wir nach Berlin schauen müssen“, sagte Kapteina.

Die Rufe nach Änderungen am Gesetz werden lauter, die Hoffnung ruht auf der Politik. Kalweit weiß das. „Wir müssen das mitnehmen, sonst wird es in ländlichen Gebieten ganz, ganz schwierig“, sagte er. Zwar laufen bereits Musterverfahren gegen die Grundsteuerreform vor Gerichten. Doch bis diese höchstrichterlich entschieden sind, „sind die Leute hier arm“, meinte Kalweit. Auch Kämmerer Grabenkamp wiederholte auf dem Bürgerdialog seine Forderung nach Änderungen am Gesetz. „Jeder Härtefall ist einer zu viel.“

Grundsteuer-Anfragen: Tausende Anrufe bei der städtischen Hotline

Seit dem 7. Januar zählte die Stadt an ihrer Hotline über 5000 Anrufe, der überwiegende Teil der Anrufer hat Fragen zur Grundsteuer. Darunter sind freilich nicht nur die massiv Betroffenen, auch weniger stark belastete Besitzer machen ihrem Ärger Luft. Andere wiederum bemerken erst jetzt, dass sie bei den Angaben gegenüber dem Finanzamt Fehler gemacht haben. Auch am Dienstagabend berichtete eine Frau, dass sie irrtümlich eine Kernsanierung für ihr Haus angegeben hatte. Der Stadt sind in solchen Fällen die Hände gebunden. Ralf Macher riet, eine „fehlerbeseitigende Fortschreibung“ beim Finanzamt zu beantragen.

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Obwohl zehntausende Eigentümer gegen die Bescheide des Finanzamtes Einspruch eingelegt haben, müssen sie nun die Steuer zahlen. Einsprüche haben keine aufschiebende Wirkung. Auch am Dienstag berichteten viele, dass sie bis heute vergeblich auf eine Reaktion vom Finanzamt warten. Wer die höhere Steuerlast nicht tragen könne, dem empfahl Macher, bei der Stadt einen Antrag auf Stundung oder Ratenzahlung zu stellen. „Die Finanzbuchhaltung wird das wohlwollend prüfen“, versprach er. Eine Dauerlösung aber sei das freilich nicht.

Bereits über 700 Widersprüche gegen städtische Grundsteuerbescheide

Allerdings regt sich nicht nur Widerstand gegen die Bewertungen des Finanzamtes. Bis Anfang der Woche lagen der Kämmerei 708 Widersprüche gegen die Bescheide der Stadt vor, weitere 253, die unzulässig sind, weil sie per Mail oder über das Kontaktformular eingereicht wurden. Insgesamt bleibt ein Monat Zeit für den Widerspruch, die Frist läuft also in wenigen Tagen aus. Insgesamt hatte die Stadt Anfang Januar 160.000 Bescheide versandt.

Ralf Macher ist Leiter des Stadtsteueramtes in Essen. Er verspricht Betroffenen, in besonderen Härtefällen die Grundsteuer zu stunden oder eine Ratenzahlung zu ermöglichen.
Ralf Macher ist Leiter des Stadtsteueramtes in Essen. Er verspricht Betroffenen, in besonderen Härtefällen die Grundsteuer zu stunden oder eine Ratenzahlung zu ermöglichen. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Ein Teil der Widersprüche richtet sich zwar im Grunde an das Finanzamt, „diese werden wir ablehnen müssen“, so Macher. Ein anderer Teil wendet sich aber auch gegen das Vorgehen der städtischen Politik, den Hebesatz zu splitten. Auf Wohngebäude werden mit der Entscheidung des Stadtrates nur 655 Prozent erhoben, auf Nichtwohngebäude 1290 Prozent. Zu letzterem gehören auch die unbebauten Grundstücke, die schon durch die Berechnungen des Finanzamtes belastet sind und mit dem hohen Hebesatz doppelt bestraft werden.

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Auch beim Bürgerdialog musste sich Kalweit die Folgen dessen anhören: Nicht nur Grundstückseigentümer, auch Gewerbebetriebe würden damit zusätzlich belastet, Arbeitsplätze gerieten in Gefahr. „Das ist Wahnsinn für Firmen, das macht den Mittelstand kaputt“, sagte eine Eigentümerin, die ihr Grundstück an ein Unternehmen verpachtet hat.

Politiker verteidigt unterschiedliche Grundsteuer-Hebesätze in Essen: „Das war eine Güterabwägung“

Kalweit verteidigte die politische Entscheidung, zwei Hebesätze einzuführen: „Das war eine Güterabwägung. Das war allen klar.“ Er selbst gehörte zu den Befürwortern, stimmte dafür. „Es ging darum, das Wohnen nicht noch weiter zu verteuern“, betonte er. Ein einheitlicher Hebesatz, der bei über 800 Prozent gelegen hätte, hätte besonders Wohngebäude getroffen. Vielen Mietern und Hausbesitzern wollte man jedoch noch höhere Nebenkosten ersparen. Dass es in der Folge solche Extremfälle, wie jetzt bekannt, geben würde, „ist der Politik im Vorfeld so nicht deutlich gewesen“, räumte der CDU-Mann ein.

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