Essen-Kettwig. Für viele Alteingesessene ist die Eingemeindung vor einem halben Jahrhundert noch immer ein rotes Tuch. Die Besonderheiten des 50. Essener Stadtteils.

Kettwig liegt im äußersten Südwesten der Stadt und ist mit 15,36 km² flächenmäßig der größte Stadtteil von Essen. Essen? Nicht wirklich, oder? Für etliche Alteingesessene ist die Bezeichnung ihrer Heimat als Essen-Kettwig immer noch ein rotes Tuch. Die ungebrochene Beliebtheit des Autoaufklebers „Kettwig statt Essen“ in Form eines gelben Ortsschildes ist dabei nur eines von vielen Indizien, dass 50 Jahre nach der Eingemeindung in die Ruhrmetropole die Distanz zum Stadtkern und der dort sitzenden Verwaltung nicht nur in Kilometern gemessen wird.

Kettwig wird von seinen Bewohnerinnen und Bewohnern, egal welchen Alters, als etwas Besonderes angesehen. Bei einer Umfrage unserer Redaktion in den sozialen Medien kamen Aussagen wie zum Beispiel diese von einem User: „Kettwig wurde zu Essen als 50. und bisher letzter Stadtteil 1975 im Rahmen der damaligen Gebietsreform eingemeindet. In den USA ist Hawaii der 50. Staat. Kettwig ist sozusagen der Hawaii-Stadtteil von Essen. Wer will nicht auf/in Hawaii wohnen?“

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Am 22. Juni 1983 gründete sich der „Kettwiger Kreis“

Andere schreiben: „Kettwig ist nicht Essen“ und „In Kettwig findet ihr die Hauptstraße von Essen. Mehr muss man doch zu Kettwig nicht sagen, oder?“ Auch diese Aussage ist wohl symptomatisch für die Befindlichkeiten: „Ich gehe in die Stadt heißt: Ich gehe in die Kettwiger Stadt. Ansonsten heißt es: Ich fahre nach Essen.“

Für das Heimatmuseum konnte ein Ortsschild gerettet werden, das Herbert Münker, Armin Rahmann und Herbert Wißler (v.l.) stolz präsentieren.
Für das Heimatmuseum konnte ein Ortsschild gerettet werden, das Herbert Münker, Armin Rahmann und Herbert Wißler (v.l.) stolz präsentieren. © P. Treiber

Helmut Wißler, stellv. Vorsitzender im Heimat- und Verkehrsverein (HVV) Kettwig und Leiter des Vereinsausschusses Geschichte und Museum, nickt: „Im Alltag ist das noch nicht angekommen. Auch, wenn 50 Jahre vergangen sind. Das ist in uns drin, die Stadt ist Kettwig.“ Und das werde von Generation zu Generation weiter getragen, so der 79-Jährige. Ist Kettwig wie das gallische Dorf von „Asterix und Obelix“? Wehrhaft und unangepasst?

„Im Alltag ist das noch nicht angekommen. Auch, wenn 50 Jahre vergangen sind. Das ist in uns drin, die Stadt ist Kettwig.“

Helmut Wißler
über das Selbstverständnis der Einwohner

Wehrhaft, ja das sei man sicherlich lange Zeit gewesen, bestätigt Armin Rahmann, Mann der ersten Stunde im „Kettwiger Kreis“. Dieser gründete sich am 22. Juni 1983: Neben dem Namensgeber und Wattenscheid waren Rheydt bei Mönchengladbach, Porz bei Köln, Hohenlimburg und Rheinhausen dabei. Aus den einzelnen Bewegungen der 1975 eingemeindeten Städte wurde eine landesweite Initiative mit dem Ziel der Rückgemeindung.

Die Nähe zu den Einwohnern ist verloren gegangen

Es folgten Protestveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und viele, viele Politikergespräche auf kommunaler Ebene wie auch mit Vertretern des Landes NRW. „Im Grunde wollte aber keiner daran rühren, was von der Landesregierung beschlossen worden war und damals einfach im Trend der Zeit lag, nämlich Verwaltungseinheiten zusammenzufassen“, so Rahmann.

Dieser Aufkleber prangt noch auf so manchem Autoheck: Kettwig ist was Eigenes.
Dieser Aufkleber prangt noch auf so manchem Autoheck: Kettwig ist was Eigenes. © P. Treiber

Was zur Folge habe, dass „die Nähe“ zu den Bürgern einfach verloren gegangen sei. „Früher ist man ins Rathaus Kettwig gegangen, kannte dort seine Ansprechpartner, konnte Dinge direkt erledigen. Dem Bürgermeister begegnete man beim Einkaufen, das war sehr familiär“, erzählt Herbert Münker, 75, der in Kettwig vor der Brücke zuhause ist. Politische Entscheidungen seien damals mehr im Interesse der Bewohner getroffen worden.

„Früher ist man ins Rathaus Kettwig gegangen, kannte dort seine Ansprechpartner, konnte Dinge direkt erledigen. Dem Bürgermeister begegnete man beim Einkaufen, das war sehr familiär.“

Herbert Münker
lebt in Kettwig vor der Brücke
Als selbstständige Stadt hatte Kettwig auch eine eigene Sparkasse mit mehreren Filialen.
Als selbstständige Stadt hatte Kettwig auch eine eigene Sparkasse mit mehreren Filialen. © P. Treiber

Heute werde Kettwig „von Essen aus“ verwaltet, seien Entscheidungen kaum nachvollziehbar. Oft gewinne man sogar den Eindruck, dass die nördlichen Stadtteile gegenüber dem südlichen, „gut betuchten“ Kettwig als bedürftiger und deshalb unterstützenswerter angesehen werden. Münker: „Der Schulstandort Mintarder Weg fällt seit 2017 weg.“ Der Neubau lasse auf sich warten, obwohl viele neue Familien zugezogen seien.

Kettwiger wollten mehrheitlich ihre Stadt wiederhaben

Hätte alles besser werden können mit einer Rückgemeindung und der Zugehörigkeit zum Kreis Mettmann? Mit aktuell etwas über 18.000 Einwohnern wäre man dort die kleinste kreisangehörige Stadt. Doch im Grunde sei es müßig, sich das auszumalen, sagt Rahmann und klingt resigniert: „Denn echte Chancen dazu hatten wir nicht.“

„Das hat mir damals einen echten Knacks gegeben. Da wurde einfach über die Mehrheit der Bürger hinweggegangen.“

Armin Rahmann
über die Abstimmung im Landtag zur Rückgemeindung Kettwigs

Ein 1996 in Kettwig durchgeführtes Bürgerbegehren für die Wiederherstellung der Stadt, das eine Mehrheit von fast 55 Prozent der abstimmenden Kettwiger bekam, wurde von der CDU aufgegriffen und 1997 im Landtag als Antrag eingebracht. Doch dieser wurde mit den Stimmen von SPD und Grünen abgeschmettert. „Das hat mir damals einen echten Knacks gegeben“, sagt der heute 87-jährige Armin Rahmann. Sein Vertrauen in die Politik sei nachhaltig zerstört worden. „Da wurde einfach über die Mehrheit der Bürger hinweggegangen.“ Der Antrag der Grünen, für Kettwig eine eigene Bezirksvertretung einzurichten, war zuvor im Essener Rat abgelehnt worden.

Heimat- und Verkehrsverein Kettwig steht für Brauchtumspflege

Neben dem „Kettwiger Kreis“ hatte sich besonders der HVV für eine Ausgemeindung stark gemacht. Das hatte eine Historie: Ende 1974 wurde in Kettwig der „Verein Bürgerrecht“ gegründet, dem sich 1000 Mitglieder anschlossen. Nach der Auflösung des Vereins 1981 übernahm der HVV das Vereinsvermögen und verpflichtete sich, „die kommunalpolitische Entwicklung zu beobachten und tätig zu werden, wenn die Aussicht bestünde, die Zwangseingemeindung rückgängig zu machen“, so Gernot Schmidt, der damalige Vorsitzende.

Gemeinschaft erleben und das Brauchtum pflegen, dafür steht der HVV Kettwig (hier bei der „Langen Tafel“ im Sommer).  
Gemeinschaft erleben und das Brauchtum pflegen, dafür steht der HVV Kettwig (hier bei der „Langen Tafel“ im Sommer).   © HVV

„Realistisch wäre das jetzt wohl nicht mehr“, sagt Christine Broders, die heute den Vereinsvorsitz innehat. Sie ist Ur-Kettwigerin und kann die Skepsis gegenüber Essen verstehen, „aber wir haben inzwischen einen Generationswechsel“. Für Zugezogene sei es selbstverständlich, ein Teil von Essen zu sein. Dennoch stehe der HVV nach wie vor für Tradition und Brauchtumspflege. „Jeder Stadtteil hat sein eigenes Leben und wir in Kettwig haben eben unseres!“

Die Vorwahl blieb, aber Telefonieren wurde billiger

Kettwig behielt im Zuge der kommunalen Neugliederung seine eigene Telefonvorwahl 02144, geändert 1978 in 02054. „Das einzig Gute an der Eingemeindung war, dass Gespräche nach Essen nun nicht mehr so viel kosteten, weil es keine Ferngespräche mehr waren“, sagt Helmut Wißler mit einem Augenzwinkern.

Bis 1975 hatte Kettwig die Postleitzahl 4307, danach 4300 Essen 18 und mit Einführung der fünfstelligen Postleitzahlen seit 1993 sind Briefe mit 45219 Essen zu beschriften. Die Namen der Bahnhöfe „Kettwig“ und „Kettwig Stausee“ blieben erhalten.

Bis zum Jahr 1975 hatten Kraftfahrzeuge die Zulassung mit einem „D“, nach der Eingemeindung ein „E“ für Essen. Das Kennzeichen mit dem „D“ war bis 1975 gleichermaßen für die Stadt Düsseldorf und für den Landkreis Düsseldorf-Mettmann das Zulassungskennzeichen. Nur durch verschiedene Kombinationen der Buchstaben und Zahlen hinter dem „D“ konnte man erkennen, ob das Fahrzeug aus der Stadt Düsseldorf oder aus dem Landkreis Düsseldorf-Mettmann war.

Und noch ein Unikum: Die Katholiken gehören weiter zum Bistum Köln

An der Zugehörigkeit Kettwigs zum Erzbistum Köln änderte sich 1975 nichts. Die auf Kettwiger Gebiet befindliche Jugendbildungsstätte St. Altfrid wurde dem Bistum Essen anlässlich seiner Gründung 1958 vom Erzbistum Köln überlassen.

Lange gab es auch für die überwiegend protestantische Bevölkerung keine Veränderung: Bis 2015 gehörte sie zum Kirchenkreis Mülheim an der Ruhr, wechselte dann aber zum Kirchenkreis Essen.

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