Essen. .
Von Kettwig bis Karnap - wer diese Kurzformel benutzt, der meint ganz Essen, meint die Stadt in ihrer Ausdehnung und Vielfalt. Kettwig fällt die Rolle als südlicher Zipfel mit Ruhrlage und hohem Idylle-Faktor zu.
Besucher von auswärts geraten hier in schwärmerisches Staunen, so untypisch ist der Ort fürs Ruhrgebiet. Tatsächlich gehört Kettwig fast schon zum Bergischen Land, und seine Bewohner fühlen sich Essen nur sehr bedingt zugehörig. Es ist ein Stadtteil wider Willen.
Auf eine gut 1200-jährige Geschichte blickt Kettwig zurück, einige der schmucken Fachwerkhäuser stammen noch aus dem 14. Jahrhundert, 1857 erhielt man die Stadtrechte. Grund genug für Bürgerstolz und vehemente Gegenwehr, als es 1975 zur Eingemeindung durch Essen kam. „Das war ein schwerer Schlag“, erinnert sich Armin Rahmann, der damals sogar ins Visier des Verfassungsschutzes geriet, weil er zu den Gründern des „Vereins Bürgerrecht“ gehörte, der für Kettwigs Eigentständigkeit kämpfte. Am Ende blieben von dieser Eigenständigkeit nur die Vorwahl 02054 und die Zugehörigkeit zum Erzbistum Köln. Es klingt paradox, aber in Kettwig an der Ruhr hat der Ruhrbischof nichts zu sagen.
Der Verfassungsschutz aber sollte bald erkennen, dass es größere Staatsfeinde gibt als ausgerechnet Armin Rahmann. Und der Diplom-Betriebswirt, der 40 Jahre bei Krupp gearbeitet hat, sollte im Ruhestand eine zweite Karriere machen, als Heimatforscher und „Nachtwächter“. In historischem Gewand, mit Laterne und viel Sachkenntnis bewaffnet, führt der 72-Jährige Besucher durchs abendliche Kettwig. Zweieinhalb Stunden dauert die Tour, die Rahmann im Sommer auch nachmittags und in Zivil anbietet, im Wechsel mit anderen Fremdenführern und im Auftrag des Heimat- und Verkehrsvereins (HVV), dem er angehört.
Überhaupt haben die gut 18 000 Kettwiger eine beachtliche Zahl von Vereinen, in denen sie ihren Bürgersinn ausleben, sich um ihren Heimatort verdient machen: Da gibt es etwa den Verein der Museums- und Geschichtsfreunde Kettwig, KettIn, den Bürgerbus e.V. und eben jenen HVV, dem der historische Pfad ebenso zu verdanken ist wie der Skulpturenpark. An einer der Skulpturen treffen wir Rahmann, am Märchenbrunnen. Das Wildschwein dort kann man nicht verfehlen, dagegen ist der zum Märchen gehörende Schneider nicht leicht auszumachen - er sitzt auf einer Plattform in luftiger Höhe. Das unsichtbare Schneiderlein habe für manche Aufregung gesorgt, bis ein Scherzbold dem Schneider mal ein Schalke-Trikot überzog. „Da konnte man ihn jedenfalls nicht übersehen.“
Wenige Schritte ist es von hier zur evangelischen Kirche am Markt, jenem Bauwerk, das das Bild der Altstadt prägt. Die Kirche ist ein Konvertit; als sie 1250 erstmals urkundlich erwähnt wurde, war sie noch katholisch und hörte auf den Namen St. Petrus. Am Fronleichnamstag 1609 soll die katholische Gemeinde beinahe geschlossen zum reformierten Glauben übergetreten sein. Doch auch 400 Jahre später fühlen sich Kettwiger aller Konfessionen verantwortlich für „den Mittelpunkt des Ortes“, wie Rahmann erzählt. 130 000 Euro spendeten sie, als vor zwei Jahren die Fassade aufwendig restauriert wurde.
Toleranz mit Tradition
Armin Rahmann, der von zu Hause die Kirchturmuhr ablesen kann, kennt die Form des Taufbeckens (achteckig), die Zahl der Orgelpfeifen (2735) und die wechselvolle Geschichte des Gotteshauses. In Kettwig gebe es eine „gelebte Ökumene“, versichert er. Davon künden nicht nur der katholische Wetterhahn und der protestantische Geusen-engel, die in friedlicher Koexistenz auf dem Kirchendach wohnen. Die Toleranz hat Tradition: Schon als um 1830 die katholische Kirche St. Peter errichtet wurde, halfen auch Protestanten mit Spenden, erzählt Rahmann.
Neben der Kirche toben die kleinsten Kettwiger im Kindergarten, und noch dürfte ihnen schnuppe sein, dass der ein Musterbeispiel für den rheinischen Klassizismus ist und einst die Villa des Fabrikanten Julius Scheidt war. Doch an der Familie Scheidt werden sie nicht vorbeikommen: Die Tuchmacher-Dynastie, die schon mal als „Krupps von Kettwig“ bezeichnet wird, hat den Ort dauerhaft geprägt. Über der Ruhr thront die denkmalgeschützte Tuchfabrik, die neuerdings Eigentumswohnungen mit überwältigendem Ausblick beherbergt - und die Silhouette des Ortes mindestens so stark prägt wie die Kirche am Markt.
Was es bedeutet, was es kostet, Baudenkmäler behutsam zu modernisieren, ohne ihren Charakter zu zerstören - an der Scheidtschen Tuchfabrik lässt sich das ablesen. Im Kleinformat finden sich zig solcher Bau-Geschichten an der Ruhrstraße oder rund um den Tuchmacherplatz. Der Bergische Barock mit seinen in der Mitte teilbaren Klöntüren und den mächtigen Türklopfern, Schieferverkleidungen und Fachwerk gelten allgemein als wertvolles Erbe. Die Denkmalschützer erklärten bisweilen aber auch den in den 60er Jahren auf altes Gemäuer aufgetragenen Verputz für unantastbar, wundert sich Rahmann. Und so kann sich Kettwig glücklich schätzen, dass sich immer wieder Menschen darauf einlassen, mit der historischen Bausubstanz und den heutigen Behörden zu ringen.
Natürlich besteht der mit 1543 Hektar größte Essener Stadtteil nicht nur aus seinem historischen Kern; auch Ickten, Auf der Höhe und Vor der Brücke zählen dazu. Doch die Altstadt zieht die Touristen an, hier dreht Armin Rahmann mit ihnen seine Runde. Mit dem Ruhrtal-Radweg haben sich der Besucherstrom und die Zahl der Cafés noch einmal vergrößert. Und während sich mancher Kettwiger bis heute mit Essen schwer tut, verbringen viele Essener den schönsten Tag ihres Lebens in Kettwig: Im alten Rathaus wird zwar nicht mehr regiert, aber nirgends macht eine standesamtliche Trauung so viel her wie hier.