Essen. Sie lassen sich Botox in die Magenwand spritzen, um abzunehmen, und geraten in Lebensgefahr: Essens Uniklinik warnt vor dem gefährlichem Trend.
Eine fast verschwundene Krankheit taucht plötzlich wieder auf, und das nicht nur als Einzelfall, sondern mit einem „erheblichen Ausbruch“? Über den „major outbreak“ von Botulismus hat Prof. Dr. Christoph Kleinschnitz gemeinsam mit Kollegen von anderen Kliniken und Universitäten nun eine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben. Angeregt wurde die durch den Fall einer jungen Patientin, die nach einem Schönheits-Eingriff in der Türkei im März 2023 als Notfall in die Uniklinik Essen eingeliefert wurde.
Essener Mediziner kannte die gefährliche Krankheit nur aus dem Lehrbuch
Kleinschnitz ist Direktor der Klinik für Neurologie am Uniklinikum, blickt auf mehr als zwei Jahrzehnte Praxis zurück und kannte Botulismus bis dahin doch nur aus dem Lehrbuch: „Früher sind viel mehr Menschen daran erkrankt – und oft verstorben.“ Heute ist die Vergiftung durch das Botulinum-Nervengift (Botox) sehr selten, im ganzen Land gibt es im Schnitt fünf Fälle pro Jahr.
- Botox: Junge Essenerin nach Abnehm-Spritzen in Lebensgefahr
- Medizin-Professor: Ich teile die Panik vor Long Covid nicht
- Alzheimer abbremsen? Neurologe hofft auf neues Medikament
- Lachgas aus dem Ballon: Junge Leute gelähmt in der Ambulanz
Bei den wenigen heute noch auftretenden Fällen handelt es sich meist um Lebensmittelbotulismus: Er entsteht, wenn man eingemachte Lebensmittel oder solche aus Konserven isst, die mit Clostridien-Bakterien oder deren Sporen belastet sind. Die Bakterien produzieren Botox, das die Vergiftung auslöst. „Botulinumtoxin ist eins der potentesten Nervengifte. Es hemmt die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln“, erklärt Kleinschnitz.
„Botulinumtoxin ist eins der potentesten Nervengifte. Es hemmt die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln.“
Bei Sarah (Name geändert) löste keine verdorbene Speise, sondern eine Schlankheits-OP den Botulismus aus: Die damals 28 Jahre alte Mutter war Ende Februar 2023 nach Istanbul gereist, um sich dort Botox in die Magenwand spritzen zu lassen und so schnell abzunehmen – dabei war Sarah keineswegs dick.
Die Lifestyle-Reise wird für die junge Frau zum Horrortrip
Als Lifestyle-Trip wird das von vielen türkischen Schönheitskliniken beworben: Eingriff, Sightseeing, Rückflug. Für Sarah wurde die Reise zum Horrortrip: „Ich konnte nur noch völlig verschwommen sehen, hatte Doppelbilder, dann konnte ich kaum noch schlucken und laufen.“ Das Nervengift Botox löse schwerwiegende Lähmungserscheinungen aus, bestätigt Kleinschnitz: „Ist die Atemmuskulatur gelähmt, kann man daran sterben.“ In den ersten 48 Stunden kann man ein Anti-Toxin verabreichen. „Danach hilft es nicht mehr.“
So schnell sollte Sarah keine Diagnose bekommen: In der türkischen Schönheitsklinik wimmelte man sie ab. Die Symptome seien normal und würden von selbst wieder abklingen. Doch ihr Zustand verschlechtert sich, mit letzter Kraft bucht sie einen früheren Heimflug, wird im Rollstuhl an Bord gebracht. In Düsseldorf holt ihr Mann sie ab, bringt sie sofort in die Uniklinik. „Hier hat mir Prof. Kleinschnitz das Leben gerettet“, sagt Sarah, heute 30 Jahre alt, als sie das Krankenhaus im Dezember 2024 besucht.
Patientin dankt ihrem Arzt und dem Pflegeteam von der Intensivstation
Damals kollabierte sie zwei Tage nach der Einlieferung auf der Überwachungsstation, gerät in Lebensgefahr, kommt für Wochen auf die Intensivstation. Einen Monat lang kann sie nur per Magensonde ernährt werden, nimmt nun viel mehr ab, als sie sich je gewünscht hatte. Wochenlang darf sie ihre Kinder nicht sehen. Sie ist geschwächt, kaum aufnahmefähig, braucht eine Atemmaske.
Während das Ärzte- und Pflegeteam um Sarahs Leben kämpft, erfährt Kleinschnitz von weiteren Botulismus-Fällen: „Wir beobachteten den größten Ausbruch weltweit.“ Allein in Deutschland werden in einem Monat 30 Fälle gemeldet, auch in den Nachbarländern gibt es Patienten, die nach der Magen-Behandlung erkranken. Zugelassen ist Botox für die Eingriffe nicht: Es wird „off label“ verwendet, also außerhalb der Zulassung.
„Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich in mein altes Leben zurückkehren kann.“
Dennoch sind die Fachleute irritiert: Denn Botox gilt im Prinzip als sicher und wird vielfach in der Medizin genutzt, nicht nur, um Falten zu glätten. „Wir verwenden es zum Beispiel, um schwere Verkrampfungen zu lösen, etwa nach einem Schlaganfall“, sagt Kleinschnitz. Früh äußern Robert-Koch-Institut und Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) den Verdacht, dass das Botox überdosiert oder verunreinigt gewesen sein könnte.
Als Uniklinik sei man auch der Forschung verpflichtet, sagt Kleinschnitz. Und so bitten die Essener über die Homepage der DGN, Mediziner aus ganz Deutschland, ihnen ihre Botulismus-Fälle zu melden: „Die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Botulismus-Ausbruchs ist wichtig, um zukünftig Betroffenen schneller helfen zu können“, schreibt Prof. Tim Hagenacker von der Klinik für Neurologie. Gemeinsam mit ihren Kollegen und Kolleginnen sehen sich die Essener zehn Fälle genauer an: acht Frauen und zwei Männer, zwischen 22 und 50 Jahre alt.
- Die Lokalredaktion Essen ist auch bei WhatsApp! Abonnieren Sie hier unseren kostenlosen Kanal: direkt zum Channel!
Dabei wird schnell klar, dass alle Fälle ihren Ursprung in nur zweien der türkischen Schönheitskliniken haben. Die allermeisten entfallen auf die eine der beiden Einrichtungen. „Es gibt viel Medizin-Tourismus in die Türkei und gute Krankenhäuser in Istanbul“, sagt Kleinschnitz. Sarahs Klinik zählte wohl nicht dazu.
Der angebliche Arzt trägt Straßenkleidung statt Kittel
Sie hat selbst kein gutes Gefühl, als sie im Frühjahr 2023 dort ankommt: Hemdsärmelig habe eine Angestellte das Geld abkassiert und in eine Bauchtasche gesteckt. Der angebliche Arzt trägt Straßenkleidung statt Kittel. Trotzdem bleibt die junge Frau, fordert sogar: „Geben Sie mir viel, damit ich schnell abnehme.“ Womöglich erklärt das, warum der Botulismus so schlimm bei ihr wütet: Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass deutlich zu hohe Botox-Dosen die plausibelste Erklärung für die Krankheitsfälle sind. Denkbar sei auch die Gabe eines gefälschten (und zu hoch dosierten) Arzneimittels.
Botulismus kehrt durch Magen-OP zurück
Bei der Magen-Behandlung wird Botox in die Magenwand gespritzt, damit die Patienten abnehmen: Das Nervengift verringert die Peristaltik, die Nahrung bleibt länger im Magen und das Sättigungsgefühl hält länger an. In etlichen Fällen hat diese Behandlung bei den Patienten einen lebensgefährlichen Botulismus ausgelöst.
Selbst wenn der Eingriff komplikationslos verlaufe, sei der versprochene Nutzen jedoch fraglich, mahnt die Vereinigung der Deutschen Ästhetisch-Plastischen Chirurgen: „Der Effekt einer solchen Behandlung dürfte kaum länger als etwa sechs Monate anhalten.“
Wichtig ist den Forschern nun, auf die vergessene Krankheit aufmerksam zu machen: „Jeder Neurologe und jeder Notarzt sollte sich bewusst sein, dass es Botulismus gibt“, schreiben sie. Eine rechtzeitige Diagnose kann Leben retten. Wie knapp es bei Sarah war, spürte sie, als sie jetzt noch einmal auf die Intensivstation zurückkehrt: „Hier lag ich so hilflos, wie gelähmt, war so abhängig von anderen, wurde im Rollstuhl `rausgefahren.“
- Wohnungsloser bei eisiger Kälte auf der Rü: „Man härtet ab“
- Seaside Beach: Diese Acts spielen 2025 Open-Air in Essen
- Parkleuchten in Essen: Was Gruga-Besucher 2025 erwartet
- Uniklinik klagt gegen Reform: Das ist ein Schlag ins Gesicht
- Film aus dem OP: Schüler sehen Krebs-Eingriff ihrer Lehrerin
Dem Stations-Team hat sie einen großen Präsentkorb mitgebracht, bedankt sich: „Sie waren so einfühlsam, Sie können stolz auf sich sein.“ Die Pflegerinnen sind gerührt, ihre Patientin gesund wiederzusehen, nehmen Sarah in den Arm: „Jetzt sehen Sie so gut aus! Das ist doch eine Motivation für unsere Arbeit!“
Sie dachte nicht, dass sie wieder in ihr altes Leben zurückkehren kann
Sarah hatte nach Krankenhausaufenthalt und Reha noch einen langen Weg: „Ich habe nicht mehr geglaubt, dass ich in mein altes Leben zurückkehren kann.“ Jetzt hat sie sich gut erholt und ist im Frühjahr 2024 noch einmal Mutter geworden. Die heftigen Fotos von 2023 schaue sie sich nicht mehr an. Sie sei froh, dass sie damals mit einem ersten Artikel andere von der OP warnen konnte: „Es kamen viele Reaktionen, sogar aus dem Freundeskreis sagten einige: ,Ich wollte das eigentlich auch machen.‘“ Ihre Geschichte habe sie davon abgehalten, sagt Kleinschnitz zu Sarah – und: „Sie sind jetzt in der Wissenschaft verewigt.“
[Essen-Newsletter hier gratis abonnieren | Folgen Sie uns auch auf Facebook, Instagram & WhatsApp | Auf einen Blick: Polizei- und Feuerwehr-Artikel + Innenstadt-Schwerpunkt + Rot-Weiss Essen + Lokalsport | Nachrichten aus: Süd + Rüttenscheid + Nord + Ost + Kettwig und Werden + Borbeck und West | Alle Artikel aus Essen]