Essen. Eine Essenerin ist verzweifelt, weil ihre Privatkasse hohe Klinikkosten nicht voll erstatten will. Diese Kasse mache das häufiger, sagt ihr Arzt.

Achteinhalb Monate hat Stephanie Obst wegen schwerer Depressionen und begleitender psychischer Erkrankungen in den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) verbracht. Als Privatpatientin genoss sie eine umfangreiche Therapie – doch die will ihre Krankenversicherung nicht bezahlen. Nun führt die 58-Jährige einen Papierkrieg um Tausende Euro, der sie zurückwirft und zermürbt: „Ich habe inzwischen Angst vor meinem Briefkasten.“ Ihr Arzt sieht bei der Versicherung Methode am Werk: „Bei Patienten mit chronischen Depressionen, Angststörungen, Burn-out oder bipolaren Störungen, weiß man, dass sie keinen langen Atem haben“, so Prof. Dr. Martin Schäfer.

Patienten bleibt auf Kosten von 6000 Euro sitzen

Er ist Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin an den KEM und steht quasi im Mittelpunkt des Streites. Denn die Arag, bei der Stephanie Obst versichert ist, erkennt weite Teile seiner Chefarzt-Leistungen nicht an und weigert sich, sie zu begleichen. „Wenn Herr Prof. Schäfer seine Kernleistung [...] erbracht hätte, dann hätte der Sachverhalt anders bewertet werden können“, schreibt die Arag auf Anfrage.

Als Konsequenz hat die Krankenkasse von einer Rechnung über gut 9200 Euro für den Klinikaufenthalt von Sommer 2022 bis Februar 2023 lediglich gute 3300 Euro anerkannt. „Da bin ich sofort in Panik geraten“, schildert Stephanie Obst. „Ich kann die fehlenden knapp 6000 Euro nicht aus der Portokasse nehmen und vorstrecken.“ Privatversicherte begleichen ihre Arztkosten selbst und reichen die Rechnung an ihre Krankenkasse. Zahlt die nicht, hat der Versicherte ein Problem.

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Die Arag sagt, Prof. Schäfer müsse als Kernleistung für seine Patientin „einmal wöchentlich Einzeltherapie oder Gruppentherapie“ erbringen. Das sei nicht geschehen: „Nach Sichtung der Therapiepläne hat Herr Prof. Schäfer lediglich die Visiten durchgeführt.“ Der Psychiater widerspricht entschieden: „Ich führe bis zu dreimal wöchentlich ärztlich-psychotherapeutische Gespräche mit den Patienten, die die Arag einfach als Visiten abtut, die es so gar nicht gibt in der Psychiatrie.“

Kein Chefarzt könne allein sämtliche Therapiesitzungen übernehmen

Der Versicherer verlange, dass er jeweils ein „tiefenpsychologisches Gespräch“ führe. Doch das sei gar nicht die Expertise, derentwegen die Patienten zu ihm kämen. Schäfer ist Verhaltenstherapeut und kommt zudem aus der biologischen Psychiatrie. „Ich kümmere mich primär um eine umfassende Diagnostik, mache wenn nötig auch eine Kernspintomographie und erbringe etliche medizinische Leistungen.“

An seiner Klinik seien viele Patienten mit bipolaren Störungen, Psychosen, Demenzen und Suchterkrankungen neben jenen mit Depressionen oder Angststörungen. „Das sind Erkrankungen, die primär medikamentös behandelt werden.“ Natürlich biete man auch viel Psychotherapie. Aber: „Ein Privatpatient erhält doppelt so viele psychotherapeutische Sitzungen wie gesetzlich Versicherte – das schafft zeitlich kein Chefarzt allein.“

Klinikdirektor verweist auf Gerichtsurteile zu Behandlungskosten

Ärgert sich, dass eine Krankenkasse seine ärztlich-psychotherapeutischen Gespräche als „Visite“ abtut: Prof. Dr. med. Martin Schäfer, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin der Kliniken Essen-Mitte (KEM)
Ärgert sich, dass eine Krankenkasse seine ärztlich-psychotherapeutischen Gespräche als „Visite“ abtut: Prof. Dr. med. Martin Schäfer, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin der Kliniken Essen-Mitte (KEM) © Udo Geisler

Vielmehr stelle er die gesamte Therapie für jeden seiner Patienten individuell zusammen und übertrage einzelne Elemente an das von ihm geleitete multiprofessionelle Team, zu dem Schwestern, Therapeuten und Ärzte gehören. „Die psychotherapeutische Leistung kann ich an approbierte Psychotherapeuten delegieren.“ Da sie von Schäfer angeleitet arbeiten, könne diese Therapie als Chefarztleistung abgerechnet werden. Das stehe im Einklang mit aktuellen Rechtsprechung und werde von anderen Versicherungen auch nicht angezweifelt, betont der Psychiater.

Bestätigt sei das auch durch ein Urteil des Amtsgerichts Essen vom März 2022 (Az: 137 C 54/19) in einem ähnlichen Fall: Auch damals habe die Arag erhebliche Teile der Rechnung nicht begleichen wollen. Schäfer sah sich gezwungen, die Summe vor Gericht einzufordern. „Es hat mir wehgetan, meinen Patienten zu verklagen. Aber er hat den Vertrag mit der Klinik. Ich kann nicht die Versicherung verklagen.“

Prof. Dr. med. Martin Schäfer, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin der Kliniken Essen-Mitte (KEM)

„Es hat mir wehgetan, meinen Patienten zu verklagen. Aber er hat den Vertrag mit der Klinik. Ich kann nicht die Versicherung verklagen.“

Prof. Dr. med. Martin Schäfer, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin der Kliniken Essen-Mitte (KEM), über den Streit um Behandlungskosten

Am Ende habe das Gericht bis auf einen kleineren Punkt alle Kosten als gerechtfertigt angesehen. Im Urteil heiße es, Schäfer müsse keineswegs alle Chefarzt-Leistungen selbst erbringen. Es reiche, dass das gesamte Behandlungs-Setting „sein persönliches Gepräge habe“. Die Psychotherapien könnten nach der Gebührenordnung für Ärzte abgerechnet werden, wenn sie „durch einen approbierten Psychotherapeuten abgehalten“ würden.

Familien von Patienten rufen den Mediziner weinend an

Trotz des Urteils weigere sich die Arag weiter, die wöchentlichen Therapiesitzungen zu begleichen. Schäfer vermutet Kalkül: „Das ist das Teuerste an der Behandlung.“ Die Patienten werden so zwischen Klinik und Kasse zerrieben. „Mich rufen weinende Familien an und flehen: ,Bitte verzichten Sie auf die Zahlung.’“ Wehren könne sich nur, wer relativ stabil sei – und eine Rechtsschutzversicherung habe. „Wenn die Patienten ihrerseits die Arag verklagen, lenkt die in der Regel ein: Zahlt die Rechnung oder bietet einen Vergleich an.“

Stephanie Obst

„An schlechteren Tagen nehme eine Beruhigungspille, bevor ich den Brief öffne.“

Stephanie Obst, Patientin, streitet mit ihrer Krankenkasse um die Erstattung hoher Klinikkkosten

So auch bei Stephanie Obst: Allerdings „ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“. Das hat die 58-Jährige abgelehnt. Sie ist rechtsschutzversichert und lässt sich von einem Anwalt vertreten, auch den Ombudsmann für Privatversicherte hat sie kontaktiert. Doch der monatelange Schriftverkehr hat ihr zugesetzt: Sie fange an zu zittern, wenn sie einen Brief mit dem gelben Arag-Logo erhalte: „An schlechteren Tagen nehme eine Beruhigungspille, bevor ich den Brief öffne.“

Von Angststörung bis Sucht


Die von Prof. Dr. med. Martin Schäfer geleitete Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik & Suchtmedizin der Ev. Kliniken Essen-Mitte (KEM), liegt am Deimelsberg in Steele. Sie hat 136 Betten und 25 Plätze für tagesklinische Patienten.

Schwerpunkte sind die Behandlung von Depressionen, bipolaren Störungen, psychosomatischen Erkrankungen und Angststörungen. Auch schizophrene Psychosen und organisch bedingte Hirnerkrankungen sowie gerontopsychiatrische Erkrankungen werden behandelt. Das Suchtzentrum bietet Entzugsbehandlungen für Menschen, die abhängig sind von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen.

Psychiatrische Notfälle werden in der 24 Stunden-Notfallambulanz der KEM im Huyssensstift in Huttrop versorgt.

Die Arag wirbt auf ihrer Homepage dafür, die „gesetzlichen Minimal-Leistungen“ durch eine private Zusatzversicherung zu ergänzen. Denn: „Für Ihre Genesung im Krankenhaus ist das Beste gerade gut genug.“ Das gelte, solange es sich für die Kasse rechnet, sagt Stephanie Obst, die privatversichert ist. In einem Arag-Schreiben an den Ombudsmann heiße es: „Die Beitragszahlungen erfolgen regelmäßig. In den letzten drei Jahren lagen die Leistungsausgaben oberhalb der Beiträge.“ Nachdem es 23 Jahre lang anders gewesen sei, folgert Obst, „werfe ich jetzt keinen Gewinn mehr ab“.

Nach einem Skiunfall im Jahr 2014 hat sie erlebt, wie schnell alle Reserven dahinschmelzen: Erst fiel sie aus der Lohnfortzahlung ins Krankentagegeld, dann strich die Arag auch das: Sie sei gesund genug, um zumindest stundenweise zu arbeiten. Doch mit ihren Schmerzen war daran nicht zu denken. „Nachdem ich 24 Jahre ununterbrochen Vollzeit gearbeitet und entsprechend viel in die Kassen eingezahlt hatte, war ich binnen kürzester Zeit ein Sozialfall.“

Krankenkasse bombardiere die Patienten mit Einwänden

Wie begründet ihre damals ausgelösten Ängste sind, erlebt sie jetzt wieder: Im März 2024 habe die Arag ihre Krankentagegeldversicherung gekündigt: „Ein von der Kasse beauftragter Arzt habe mir Berufsunfähigkeit bescheinigt.“ Auch ziehe die Kasse immer wieder nicht nachvollziehbare Beträge von ihren Arztrechnungen ab.

Die Arag verweist darauf, dass es im Sinne alle Versicherten sei, „abgerechnete Leistungen auf ihre Korrektheit zu überprüfen“. Das machten auch andere private Kassen und es sei okay, sofern es sich um rechtskonforme Einwände handle, bestätigt Prof. Schäfer. „Ich kenne aber keinen anderen Versicherer, der das so systematisch macht und die Patienten geradezu mit Einwänden bombardiert.“

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Die Arag verweist derweil auf Urteile der Oberlandesgerichte Celle und Stuttgart von 2018 und 2015, die ihre Sicht unterstützten, dass der „Wahlarzt die seine Disziplin prägende Kernleistung persönlich und eigenhändig erbringen“ müsse.

Dass derlei spitzfindige Auseinandersetzungen gerade psychisch erkrankte Menschen überfordern und den Behandlungserfolg gefährden, liegt für Prof. Schäfer auf der Hand. „Einer meiner Patienten ist unter dem Druck so krank geworden, dass er wieder zu uns kommen musste.“ Die Arag sagt nun, man wolle dafür sorgen, dass Stephanie Obst, „in jedem Fall von den Forderungen des Rechnungsstellers freigestellt wird“ und habe angeboten, „künftig direkt mit dem Rechnungsteller zu verhandeln“. Prof. Schäfer bestreitet das: „Die haben jedes Kontaktangebot von uns abgelehnt.“

Streit mit Krankenkasse zermürbt sie: Es kann kein Happy End geben

Für Stephanie Obst, die der Streit mit der Kasse erschöpft hat, die mit Depressionen und Suizidgedanken ringt, steht fest: „Egal, ob die Arag nachgibt und aus ,Kulanz’ zahlt, oder erst nach jahrelangem Prozess dazu verurteilt wird: Die Geschichte hat so oder so kein Happy End. Denn der psychische Schaden durch das Geschäftsgebaren bleibt – wahrscheinlich für immer.“

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