Essen. Der Essener Mario L. ist inkontinent, möchte aber am sozialen Leben teilhaben. Mit den verschriebenen Klebewindeln ist das unmöglich.

Es geht um Windeln und Würde. Um einen Essener, der krankheitsbedingt Windeln tragen muss und sich ein Modell wünscht, mit dem er sich frei bewegen, am Leben teilhaben kann. Aber über ein Jahr lang erhält er Klebewindeln, wie man sie für Säuglinge kennt. Die kann er nirgends wechseln, wenn er unterwegs ist; sie ketten ihn ans Haus. Seine Gespräche mit Krankenkasse, Sanitätshaus und Arzt bleiben lange fruchtlos. Auch weil die gesetzlichen Regelungen und Zuständigkeiten für die meisten Patienten kaum durchschaubar sind. „Ich will doch gar nicht viel. Ich möchte einfach, dass mich jemand versteht“, sagt Mario L. resigniert, als er sich an uns wendet.

Im Februar 2018 wurde bei ihm ein Analkarzinom festgestellt; er wird mehrfach operiert, er muss sich Bestrahlungen und Chemotherapien unterziehen. Seither ist er inkontinent und gezwungen, Windeln zu tragen. Mit der verschriebenen Klebewindel habe er von Anfang an gehadert.

„Soll ich mich auf einer öffentlichen Toilette auf den Boden legen, um die Windel zu wechseln?“

Diese Kassenleistung orientiert sich offenbar an hochbetagten, bettlägerigen Menschen, mit denen man Inkontinenz gemeinhin verbindet. Doch Mario L. liegt nicht im Bett, er ist 53 Jahre alt und mobil, engagiert sich ehrenamtlich. „Ich bin gerne draußen, was soll ich denn machen?“ Vergeblich habe er die AOK gebeten, ihm die praktischeren Windelhosen zu zahlen. „Ein Baby kann man doch auch unterwegs wickeln“, habe eine AOK-Mitarbeiterin gesagt.

Unpraktisch: Die Klebewindeln sind für Mario L. schwer zu händeln, wenn er unterwegs ist. Bei der AOK habe man ihm gesagt, Babys könnten doch auch draußen gewickelt werden. Der 53-Jährige entgegnet, er könne sich doch nicht auf einer öffentlichen Toilette auf den Boden legen.
Unpraktisch: Die Klebewindeln sind für Mario L. schwer zu händeln, wenn er unterwegs ist. Bei der AOK habe man ihm gesagt, Babys könnten doch auch draußen gewickelt werden. Der 53-Jährige entgegnet, er könne sich doch nicht auf einer öffentlichen Toilette auf den Boden legen. © FUNKE Foto Services | Vladimir Wegener

Man wird wohl nicht mehr ermitteln können, ob dieser Satz genauso gefallen ist. Jedenfalls fühlte sich Mario L. nach dem Telefonat gedemütigt. „Ich kann mich doch nicht auf einer öffentlichen Toilette auf den Boden legen, um die Windel zu wechseln.“ Er kann sich auch nicht einfach die teureren Windelhosen vom eigenen Geld kaufen. Mario L. lebt von Grundsicherung. Er hat im Netz recherchiert: 4 Euro kostet die 30er-Packung Windeln der Marke, die er bisher erhält. 30 Windelhosen kosten dagegen knapp 18 Euro.

„Herr L. soll am gesellschaftlichen Leben teilhaben“, sagt die AOK

Wieso trägt die Krankenkasse diesen Preisunterschied nicht, der die Lebensqualität des Versicherten Mario L. doch so entscheidend verbessern würde? Als wir die zuständige AOK Rheinland/Hamburg dazu befragen, beteuert sie in einer Mail von Dezember 2019: „Uns ist es ein großes Anliegen, dass Herr L. weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann und in seinem Alltag nicht eingeschränkt wird.“

Es gebe „keine gesetzliche Vorgabe“, die die Versorgung mit einer bestimmten Windel oder einer festen Menge vorgebe. Vielmehr solle aufgrund einer „medizinischen Verordnung durch den behandelnden Arzt in jedem Einzelfall das individuell richtige Hilfsmittel ausgewählt werden“. Welches Produkt am besten geeignet sei, solle Herr L. aufgrund dieser Verordnung gemeinsam mit seinem Sanitätshaus erörtern.

Laut Krankenkasse bedurfte es einer „Testphase“, um für Mario L. die richtigen Windeln zu finden

Nach einer nicht unüblichen „Testphase“ sei ja auch gerade eine Lösung gefunden worden, heißt es in der Mail vom Dezember 2019: Mario L. solle nun künftig monatlich neben den 60 Klebewindeln auch 30 der gewünschten Windelhosen erhalten. Auf die Frage, wieso so viel Zeit bis zu dieser Lösung verging, obwohl Mario L. schon früh um die Windelhosen gebeten hatte, weist Jörg Hösterey von der AOK Rheinland/Hamburg auf den behandelnden Arzt, der seit 2018 die Klebewindeln verordnet habe. „Der Arzt hat die Therapiehoheit und entscheidet, welches Mittel notwendig ist“; sagt Hösterey.

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Der behandelnde Arzt ist Dr. Stefan Esser von der Hautklinik am Uniklinikum Essen. Er habe jedoch gar nicht gewusst, dass Mario L. längst im Sanitätshaus über die verschriebenen Windeln klagte und vergeblich mit der AOK verhandelte. „Als wir erfahren haben, wie unzufrieden Herr L. mit den Windeln ist, sind wir sofort aktiv geworden: Wir haben jetzt die gewünschten Windelhosen aufgeschrieben und attestiert, dass dieser Behandlungswechsel notwendig ist.“

Die Therapiehoheit der Ärzte ist keineswegs grenzenlos

Das Anliegen seines Patienten sei absolut berechtigt, sagt Esser: „Der Windeltyp, den wir bisher verschrieben haben, ist eher etwas für bettlägerige Patienten. Er ist auch ungünstig unter eine Hose zu ziehen. Wer am gesellschaftlichen Leben teilhaben möchte, ist mit Windelhosen besser bedient.“

Laut AOK ist für Patienten mit Inkontinenz „vorrangig“ die einfache Klebewindel vorgesehen.
Laut AOK ist für Patienten mit Inkontinenz „vorrangig“ die einfache Klebewindel vorgesehen. © FUNKE Foto Services | Christof Köpsel

Aber wieso hat die Uniklinik dann nicht schon viel früher ein entsprechendes Rezept ausgestellt? Wo Mario L. seine Ärzte doch als sehr verständnisvoll schildert. Esser hat dafür zwei Erklärungen: Erstens müsse er in Zukunft bei jüngeren Inkontinenz-Patienten wohl noch genauer nachfragen, wie gut sie wirklich zurechtkommen.

Zweitens – und entscheidender – sei die ärztliche Therapiehoheit keineswegs so grenzenlos, wie es die AOK glauben machen wolle. Vielmehr gebe die Krankenkasse für einen Fall wie den von Mario L. die Klebewindel eindeutig vor: „Wir haben nur aufgeschrieben, was die Krankenkasse vorsieht.“

„Es geht darum, eine nasse Buxe zu verhindern, nicht um das Wohlfühlmoment des Patienten.“

Jörg Hösterey von der AOK bestätigt: Der Arzt müsse das geeignete Mittel aus dem „Hilfsmittelverzeichnis“ wählen – und darin stehe tatsächlich „vorrangig“ die günstige Klebewindel. Die Versorgung mit Windelhosen habe „keine medizinischen Vorteile“. Salopp gesagt: „Es geht darum, eine nasse Buxe zu verhindern, nicht um das Wohlfühlmoment des Patienten.“

Auch gelte allgemein: „Die Hilfsmittelversorgung muss gemäß der gesetzlichen Regelungen medizinisch sinnvoll, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.“ Verschreibe ein Arzt ein anderes, teureres Produkt, müsse er das „plausibel begründen“.

Arzt ärgert sich über die unsinnige Regelungswut, die Patienten unter Druck setze

Allerdings segne die Kasse längst nicht immer ab, was der Arzt als sinnvoll begründe, sagt Stefan Esser. „Es ärgert mich, wenn ich sehe, wie viel Bürokratie hinter so kleinen Summen steht.“ Diese unsinnige Regelungswut setze Patienten unter Druck und raube auch den Ärzten wertvolle Zeit. Umso dankbarer ist Mario L. seinem Arzt, dass er ihm nun – entgegen der Kassenempfehlung – auch die teueren Windelhosen verordnet hat: „Das hat mich so belastet, dass ich ständig Bauchschmerzen hatte.“

Die Versorgung des Patienten muss wirtschaftlich sein

Neben dem Arzt und der Krankenkasse hat es der Patient noch mit dem sogenannten Leistungserbringer zu tun. Im Fall von Mario L. ist das das Sanitätshaus Luttermann, bei dem er die Windeln gegen Vorlage des Rezepts erhält. Das Sanitätshaus teilt durch eine Rechtsanwältin mit: „Welches Hilfsmittel einem Versicherten konkret zur Verfügung gestellt wird, orientiert sich an der medizinischen Notwendigkeit, die sich aus der ärztlichen Verordnung ergibt.“ Das Wirtschaftlichkeitsgebot sehe vor, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssten: „Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten.“

Wünsche der Patient eine höherwertige Versorgung, könne er mit dem Sanitätshaus eine wirtschaftliche Aufzahlung vereinbaren, ergänzt Jörg Hösterey von der AOK Rheinland/Hamburg: Er zahle dann aus eigener Tasche die Differenz zwischen dem verschriebenen Mittel und der „Wunschversorgung“. Mario L., der von Grundsicherung lebt, kann sich das nicht leisten.