Essen. Eine junge Essenerin hat stolze 75 kg abgenommen – und quält sich nun mit der überschüssigen Haut. Diese zu straffen, ist keine Kassenleistung.
Sophie Gärtner (Name geändert) ist eine hübsche, schlanke junge Frau, sie ist 1,65 cm groß, wiegt 62 Kilogramm. Doch der Körper der 21-Jährigen aus Essen steckt in einer übergroßen Hülle: in der Haut, die zeitweilig 140 kg umschloss. Durch eine Operation und ihre Disziplin hat sie viel Gewicht verloren, nun würde sie gern auch die überschüssige Haut los. Medizinisch sei das nicht notwendig, beschied ihr die Barmer Ersatzkasse (BEK). Und: „Gesetzliche Krankenkassen dürfen Schönheitsoperationen weder bezahlen noch bezuschussen.“
Schon mit drei sei Sophie weinend aus dem Kindergarten, gehänselt, weil sie dicker und schwerfälliger war als die anderen Kinder. Maria Gärtner (Name geändert) hatte das Leid ihres Kindes vorausgesehen, sie und ihr Mann seien ebenfalls übergewichtig: „Ich hatte mir fest vorgenommen, dass meine Tochter nicht dick wird.“
Schon als kleines Kind hat Sophie gern und viel gegessen
Doch Sophies Gewicht war nicht nur genetisch begünstigt, für sie sei Essen schon immer Lebensqualität und Trost gewesen: „Wenn andere Kinder ein Wassereis aßen, nahm Sophie ein Magnum.“ Früh landete sie in Abnehm-Programmen wie „Obeldicks“, verlor ein paar Kilos und futterte sie bald wieder drauf. In der Grundschule habe sie mal blöde Sprüche gehört, aber sie habe auch Freundinnen gehabt, erinnert sich die Mutter. Trotzdem belastete der stete Blick auf die Kalorien das Mädchen. „Zum sechsten Geburtstag hat sie sich gewünscht, dass sie mal ein ganzes Schnitzel essen darf.“
Je älter sie wurde, desto schlimmer wurde die Häme. Irgendwann habe sie öffentlich nicht mehr gegessen, weil die Blicke der anderen ihr zu verstehen gaben, dass sie viel zu dick sei. „Man wird immer angestarrt, es wird getuschelt, das ist total verletzend.“
Prof. Johannes Hebebrand, der das LVR-Klinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Essen leitet, befasst sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Adipositas. Was Sophie Gärtner schildert, bestätigt der Wissenschaftler: „Die Betroffenen erleben seit früher Kindheit, dass sie angestarrt werden, Kommentaren ausgesetzt sind, in der Schule gemobbt werden. Manche sind dagegen resilient, andere können das nicht ertragen. Viele können ihre Probleme nicht einmal äußern, negieren sogar, dass sie darunter leiden, weil das Thema so schambesetzt ist.“
Auch Sophie schweigt, nimmt nun heimlich den Kampf mit ihrem Gewicht auf: „Die erste Diätpille habe ich mit elf geholt und in der Apotheke erzählt: ,Die ist für Papa.’“ Später geht sie zu den Weight Watchers, bestellt Wunderpulver im Internet. Dennoch nimmt sie mit 16, 17 Jahren noch mal richtig zu.
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Der Leidensdruck sei enorm gewesen: Seit ihrem 14. Lebensjahr ist Sophie in Psychotherapie, wird zeitweise auch medikamentös behandelt. Etwa die Hälfte der Jugendlichen mit Adipositas habe psychische Störungen, ein Drittel schwere, sagt Prof. Hebebrand: „Sie leiden unter Depressionen, Angststörungen, sozialen Phobien. Viele vermeiden, in der Öffentlichkeit zu essen. Teils entwickeln sie Ess-Störungen wie Binge-Eating, also Ess-Attacken. Andere trauen sich nicht, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, manche gehen nicht mehr zur Schule oder haben später Probleme, einen Job zu finden. Freundschaften oder intime Partnerschaften sind besonders heikel.“
Ihr Leid ist so groß, dass sie ein Jahr lang nicht zur Schule gehen kann
Die Schuld sucht Sophie bei sich. Sie sei zu schwach gewesen, um mit Sport und Diät dauerhaft abzunehmen. „Man schämt sich so, dass man es nicht schafft.“ 2018 wiegt sie 143 kg. Folgt man Prof. Hebebrand, ist Sophies Scheitern verständlich: „Extrem übergewichtige Jugendliche können mit konventionellen Methoden kaum spürbar und langfristig abnehmen. Das setzt eine sehr strukturierte, disziplinierte Persönlichkeit voraus, die kaum jemand von uns hat – das gilt auch für schlanke Menschen.“ Nur den wenigsten Betroffenen gelinge das: „Für Jugendliche, deren Kontrollfunktionen noch nicht so ausgereift sind, ist das eine Meisterleistung.“ Für viele andere sei eine bariatrische Operation der erfolgversprechendere Weg.
Sophie entwickelt eine schwere Depression und geht ein Jahr lang nicht zur Schule, bis auch sie die OP als Ausweg sieht. Obwohl sie wegen des kleineren Magens kaum isst, vergehen danach Monate, bis sie sichtbar abnimmt. „Das war eine tränenreiche Zeit.“ Sie setzt sich Zwischenziele, belohnt sich mit schöner Kleidung, als sie endlich unter 100 Kilo wiegt.
2019 erreicht sie die 65 Kilo, ein Traumgewicht, das sie mit dem Genuss des Essens bezahlt. „Wenn wir essen gehen, nimmt sie nur drei Gabeln“, sagt die Mutter. Ihre Tochter aber freut sich, dass sie das Gewicht hält, eine Vorbedingung für eine Hautstraffung. Im Sommer 2019 beantragt sie die Kostenübernahme bei der Barmer – und kassiert eine Absage.
In dem Schreiben vom August 2019 stützt sich die Kasse auf das Urteil des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK): „Hauterschlaffungen nach großer Gewichtsreduktion stellen keine Krankheit, sondern einen physiologischen Zustand dar.“ Sophie habe weder krankhafte Hautveränderungen noch leide sie unter Bewegungseinschränkungen: Sie könne die überschüssige Haut mit „befundumfassender Wäsche“ bändigen.
Obwohl sie nun schlank ist, kann sie weder Bikini noch T-Shirt tragen
Nur: In Sommerkleidung oder gar im Bikini zeigt sie sich nicht, die Hautlappen an Brust, Bauch, Armen und Oberschenkeln belasten sie. „Jetzt habe ich so abgenommen und kann nicht mal ein T-Shirt tragen, weil mich weiter alle angucken.“ Sie habe sich immer versteckt, ihre Jugend nie ausgekostet: „Mit 20 bin ich zum ersten Mal feiern gegangen.“ Inzwischen besucht sie ein Berufskolleg, macht parallel Ausbildung und Abi. Mental hat die Magen-OP schon gewirkt.
Die Krankenkasse argumentiere, dass die Hautlappen nicht entstellend seien, weil sie sich unter der Kleidung verbergen ließen, sagt Maria Gärtner. „Sie ist 21 und hat einige Verehrer. Vielleicht möchte sie sich ja mal ausziehen?“ Enttäuscht von der Versicherung haben Sophies Eltern im Januar die erste Hautstraffung aus eigener Tasche bezahlt. „Fast zwei Kilo Haut wurden mir am Bauch entfernt“, erzählt Sophie. Wie könne man die Magen-OP bewilligen und den zweiten Behandlungsschritt verweigern, fragt ihre Mutter, als sie sich in der Redaktion meldet.
Dann erbringt unsere Nachfrage bei der Barmer eine überraschende Wende: Eine Woche nach unserem Anruf, erklärt eine Sprecherin der Barmer, der ehrenamtliche Widerspruchsausschuss der Versicherung habe sich mit Sophie befasst: Man habe ihre lange Leidensgeschichte berücksichtigt und entschieden, dass es sich doch „nicht um ein rein kosmetisches Problem“ handle. Sprich: Die Barmer werde die Kosten für sämtliche Operationen an Bauch, Brust, Armen und Beinen übernehmen.