Duisburg. In einem Wohnprojekt in Duisburg leben 17 Personen unter einem Dach – nicht anonym, sondern in Gemeinschaft. So wird über neue Mieter entschieden.

„Wenn es Kuchen gibt, kommen alle“, sagt Ilona Varwig (68) lachend. Im Haus „An der Reitbahn“ im Dellviertel lebt niemand allein, obwohl jeder seine eigene Wohnung hat. „Cohousing“ lautet das Stichwort. Im Alter nicht für sich, sondern in Gesellschaft leben, das wünschen sich viele. Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Wohnprojektes ist es bereits Realität. Sie möchten gemeinsam in Duisburg alt werden.

Die ersten Bewohner zogen im August 2017 in den Neubau ein. Die Idee für das Wohnprojekt hatten Ilona und Ulrich Varwig (74). Im Duisburger Süden bewohnten sie zuvor ein eigenes Haus mit großem Garten. Als die Kinder auszogen, war das Eigenheim zu groß für das Paar, zu viel Arbeit damit verbunden und zu weit vom Stadtkern entfernt. Für sie war klar: Ihren nächsten Lebensabschnitt möchten sie in Gemeinschaft verbringen. Ähnlich ging es vielen der heutigen Bewohner. Einsamkeit im Alter ist für sie eine Horrorvorstellung.

Gespräch mit Bewohnerpaar Varwig im Wohnprojekt
Die Angst vor der Einsamkeit im Alter lässt viele grübeln, wie sie künftig leben wollen. Ein Wohnprojekt aus Duisburg zeigt, welche Möglichkeiten es gibt. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Einsamkeit im Alter: Das Wohnprojekt als Stütze in schwierigen Zeiten

Als Erstes planten sie einen Gemeinschaftsraum, wo man sich begegnen und gemeinsam essen kann. „Das ist die Basis“, betont Yogalehrerin Christel Adolphi (77), die von Anfang an dabei ist. Statt eines ungemütlichen Kellers oder Dachbodens entstand eine Lobby mit Küche und Sitzlounge direkt am Eingang, die heute „Herz und Seele unseres Hauses ist“, sagt Ulrich Varwig. „Jeder muss hier durch, reinschleichen kann sich keiner.“ Nebenan ist ein weiteres Zimmer, nur durch eine Schiebetür getrennt. Aufgeschoben, entsteht ein großer Raum – mit genügend Platz für Partys und Geburtstage.

Jeder bringt unterschiedliche Vorstellungen, Bedürfnisse und Erfahrungen ein, doch die Vision des gemeinschaftlichen Wohnens verbindet sie. Im Alltag findet sich immer jemand, der Lust auf gemeinsame Aktivitäten hat, von Kino und Theater über Frühstück und Tatort-Abende bis Sport im hauseigenen Yogaraum oder Wandern in der Pfalz. „Manches ist verbindend, aber vieles nicht verpflichtend“, daher fühlt sich Wolfgang Czaja (67) wohl. Er zog vor zwei Jahren ein.

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Es müssen nicht immer Aktivitäten sein: „Manchmal ist es einfach schön, jemandem im Flur einen schönen Tag zu wünschen“, erzählt Adolphi. Gleichzeitig bleibt Raum für Rückzug. „Wenn ich da bin, hängt mein Schlüssel draußen an der Tür. Wenn nicht, brauche ich meine Ruhe.“ Über eine Gruppe beim Kommunikationsdienst Signal werden Alltagsfragen schnell geklärt: Sahne fürs Backen oder Begleitung fürs Kino.

Gespräch mit Bewohnerpaar Varwig im Wohnprojekt
Im Treppenhaus des Wohnhauses hängt eine Foto-Galerie. Jedes Jahr wird ein Foto hinzugefügt. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Gerade in schwierigen Zeiten bietet das Projekt Gemeinschaft. Ein Experiment war Corona. „Wir waren alle sehr dankbar, diese Zeit nicht allein durchleben zu müssen“, erinnert sich die Bewohnerin Franke Kurth (64). Einkäufe für Erkrankte und gegenseitiger Austausch statt Isolation war die Devise. Das zahlte sich auch vor kurzem aus, als eine Bewohnerin wieder an Corona erkrankte. Der Duft nach Kürbis und Kartoffel lockte sie an die Wohnungstür. Dahinter wartete eine warme Suppe, zubereitet von den anderen Bewohnern. 

Nicht immer alles Sonnenschein: Es gibt auch Konflikte

Wie in einer Familie gibt es auch mal Konflikte. Da hilft es, dass einmal im Monat alle zusammenkommen, um Probleme zu besprechen, Aktivitäten zu planen oder anderweitige Entscheidungen zu treffen, wie den Garten bienenfreundlicher zu gestalten und Hochbeete anzuschaffen. Entschieden wird demokratisch. Das braucht zwar Zeit, aber zahlt sich aus.

Gespräch mit Bewohnerpaar Varwig im Wohnprojekt
Ilona Varwig hatte die Idee zum Wohnprojekt „Gemeinsam leben“ in Duisburg. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

„Das Gute ist, dass wir aufeinander achten“, erklärt Wolfgang Czaja. Das Zusammenleben laufe entsprechend gut. Dazu gehöre auch, dass sich alle verantwortlich fühlen – ob für das Miteinander oder die Pflege der gemeinsamen Räume. „Jeder tut so, als wäre es sein Eigentum“, ergänzt Ilona Varwig. Dass fast alle selbst mal Eigentum hatten, sei dabei förderlich.

Viele scheitern auf dem Weg: Wie das Wohnprojekt gelingt

Ein Jahr vor Einzug haben Ilona und Ulrich Varwig bereits angefangen, ihr Hab und Gut aus dem alten Haus auszusortieren und zu verschenken. Über die Jahre hat sich einiges angesammelt. Doch auch die Wohngemeinschaft profitiert davon. So wurden die Garten- und Werkstattgaragen größtenteils mit alten Hausratsbeständen bestückt. „Alle können so viel teilen, wie sie wollen und behalten, was ihnen wichtig ist“, erklärt Franke Kurth. Einige Bewohner teilen Waschmaschinen oder Autos, während andere ihre eigenen Geräte bevorzugen.

„Alle können so viel teilen, wie sie wollen und behalten, was ihnen wichtig ist.“

Franke Kurth (64)
Bewohnerin des Wohnprojektes „An der Reitbahn“

Dass ein Wohnprojekt so gut funktioniert, sei nicht selbstverständlich, so Ulrich Varwig. Viele scheitern auf dem strapaziösen Weg. Von der ersten Idee 2012 bis zum Einzug sind fünf Jahre vergangen. Das sei noch schnell. „Wir haben uns mit nichts anderem beschäftigt als mit dem Wohnprojekt“, erinnert sich seine Frau.

Gespräch mit Bewohnerpaar Varwig im Wohnprojekt
Gemeinsam mit seiner Frau hatte der pensionierte Apotheker Ulrich Varwig die Idee, ein alternatives Wohnprojekt auf die Beine zu stellen. © FUNKE Foto Services | Frank Oppitz

Warum hat es bei ihnen funktioniert? Es sei wichtig, Menschen um sich zu scharen, die nicht nur an die Idee glauben, sondern sie auch mittragen. Neben der Suche nach Mitstreitern war auch die Finanzierung eine Hürde. Genügend zahlungsfähige Interessenten zu finden, sei schwierig. Hilfreich war dahingehend die Investition der städtischen Baugesellschaft Gebag in Höhe von 2,7 Millionen Euro.

So sieht die Zukunft des Duisburger Wohnprojektes aus

Der Verein „Gemeinsam leben“ vermietet die 14 Wohnungen als Generalmieter an seine Mitglieder. Dadurch sind alle gleichberechtigte Mieter, das war ihnen wichtig. Gemeinsam entscheiden sie, wer einzieht. Die Chemie muss stimmen – und das Alter. Gezielt spreche man Alleinstehende oder Pärchen ab 50 an. Die jüngste Bewohnerin ist 52, der älteste 80, „aber der fitteste von uns allen“, wirft Ilona Varwig lächelnd ein. Mittlerweile sei der Großteil der Bewohner in Rente. Für pflegebedürftige Personen sei der Einzug zu spät.

„Schön wäre es, wenn wir alle gesund bleiben und lange Zier hier verbringen können.“

Wolfgang Czaja (67)
Bewohner des Wohnprojektes „An der Reitbahn“

Bei der Zukunft des Projektes sind die Bewohner genügsam: Sie seien in ein Alter hineingewachsen, in dem statt großer Visionen die Gesundheit im Vordergrund steht. „Schön wäre es, wenn wir alle gesund bleiben und lange Zier hier verbringen können“, sagt Wolfgang Czaja daher. Und auch, wenn die Gesundheit mal nicht mitspiele, wollen sie füreinander da sein.

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