Bochum. Der VfL Bochum entstand 1938 aus drei Klubs. Darin: auch jüdische Mitglieder. Drei Schicksale – und wie einer es schaffte, aus dem KZ zu fliehen.

1938 – mitten in der NS-Zeit – schlossen sich drei Vereine zum VfL Bochum zusammen: der Turnverein von 1848, Germania 06 Bochum und der TuS Bochum. In allen drei Vorgängervereinen gibt es mindestens auch einen jüdischen Sportler – auch Philipp Anschel, der „vergessene Anführer“. „Er ist eine wichtige, vielleicht die entscheidende Gründungsfigur, die der VfL überhaupt hat“, sagt Sporthistoriker Dr. Henry Wahlig.

Philipp Anschel – der vergessene Anführer des heutigen VfL Bochum

Fast 200 Jahre sei seine Geschichte fast völlig vergessen worden, so der Historiker. Anschel, 1824 in Bünde geboren, war eines der Gründungsmitglieder des Turnvereins, der sich tatsächlich erst 1849 gründete. Bereits im Vorjahr gab es einen Aufruf in einer Zeitung zur Gründung eines Turnvereins in Bochum, woraufhin das als Gründungsjahr festgelegt wurde, erinnert Dr. Jonna-Margarethe Mäder vom Lehrstuhl für Judentum in Geschichte und Gegenwart des Centrums für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Universität Bochum

„Schon seit 1849/1850 ist dank Anschel der heutige VfL Bochum quasi an der Castroper Straße zuhause“, sagt Mäder. Sein Vereinslokal hatte der Bochumer Turnverein am Schwanenmarkt, an der Kreuzung des Nordrings und der Castroper Straße.

Paul und Anna van de Vooren haben bei der Veranstaltung im Stadtarchiv, bei der über jüdische Mitglieder des VfL Bochum informiert wurde, ein Geschenk des VfL bekommen.
Paul und Anna van de Vooren haben bei der Veranstaltung im Stadtarchiv, bei der über jüdische Mitglieder des VfL Bochum informiert wurde, ein Geschenk des VfL bekommen. Im Hintergrund ist Pauls Onkel Erich Gottschalk zu sehen. © WAZ Bochum | Inga Bartsch

1851 kam es jedoch zur Zwangsauflösung des Vereins durch die preußische Provinzverwaltung. Rund neun Jahre später gründete er sich neu als Turnverein Bochum. „Nach den Wiederbegründungen der Vereine ist die Turnbewegung jedoch nach rechts abgebogen“, sagt Wahlig. Der Turnverein hatte zuvor in seiner Satzung Brüderlichkeit und die Gleichachtung aller Menschen niedergeschrieben.

Turnbewegung in Deutschland kippte in 1880er-Jahren zunehmend nach rechts

Bereits in den 1880er-Jahren sei die Turnbewegung zunehmend antisemitisch gewesen, sagt der Historiker. Der sogenannte Arier-Paragraf kam im Jahr 1883 von einem Turnverein aus Wien. Die deutsche Turnbewegung habe sich dagegen nicht entschieden genug eingesetzt. Daher sei es eine „mittlere Sensation“, dass im Turnverein Bochum in diesen Jahren 15 Juden Mitglieder und zwei sogar Vorturner waren. „Das ist ungewöhnlich für diese Zeit und etwas, worauf der VfL bis heute stolz sein kann.“

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Philipp Anschel lebte zu dieser Zeit noch und habe diese Revolution wahrscheinlich mit vorangetrieben, sagt Wahlig. 1889 starb das Gründungsmitglied. Der Turnverein kippte dann doch immer weiter nach rechts. Anschel jedoch habe sich sein ganzes Leben für seine Werte, Toleranz, Demokratie und religiöse Vielfalt eingesetzt, sagt Wahlig. Sein Grab besteht bis heute auf dem jüdischen Friedhof an der Wasserstraße/Ecke Königsallee.

Erich-Gottschalk-Platz erinnert an Mitglied des TuS Bochum

Neben dem Grab von Anschel erinnert ein weiterer Ort in Bochum an ein jüdisches Mitglied eines VfL-Vorgängervereins: Der Erich-Gottschalk-Platz an der Ecke Castroper Straße/Blumenstraße. Erich Gottschalk war schon als Schüler Mitglied des TuS Bochum. 1933 war er eines der Gründungsmitglieder des jüdischen Vereins Hakoah/Schild Bochum. Dort war er sogar Kapitän und wurde mit seiner Mannschaft 1938 deutsch-jüdischer Fußball-Meister, sagt Wahlig.

Paul van de Vooren spricht im Stadtarchiv Bochum über seinen verstorbenen Onkel Erich Gottschalk, der in einem der Vorgängervereine des VfL Mitglied war. Gottschalk konnte aus dem KZ Auschwitz entkommen.
Paul van de Vooren spricht im Stadtarchiv Bochum über seinen verstorbenen Onkel Erich Gottschalk, der in einem der Vorgängervereine des VfL Mitglied war. Gottschalk konnte aus dem KZ Auschwitz entkommen. © WAZ Bochum | Inga Bartsch

Einen Tag nach der Reichspogromnacht kam er in Gestapohaft in Oranienburg. Am 11. Dezember wurde er entlassen und floh mit seiner Familie in die Niederlande. Als die Nazis 1940 die Niederlande überfielen, wurde die Familie im Lager Westerbork inhaftiert. „Mit der letzten Deportation im September 1944 wird die ganze Familie zunächst in das Konzentrationslager Theresienstadt und dann weiter nach Auschwitz deportiert“, schildert der Historiker.

Gottschalk konnte aus dem KZ Auschwitz entkommen

Auf einem der sogenannten Todesmärsche schaffte Gottschalk es, sich tot zu stellen. So konnte er fliehen. „Mehr oder weniger durch Zufall gelingt es ihm, zu überleben“, erzählt Wahlig. Bei einer polnischen Bauernfamilie kam er unter, wenige Tage später wurde das Konzentrationslager befreit.

+++Was macht die WAZ Bochum eigentlich bei Instagram? Die Redakteurinnen Inga Bartsch und Carolin Muhlberg geben im Video einen Einblick.+++

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Nach einer weiten Reise durch Europa ist Gottschalk in die Niederlande zurückgekehrt – in der Hoffnung, dort auf seine Verwandten zu treffen. Doch er war der einzige seiner Familie, der den Holocaust überlebte, so Wahlig. „Eine schreckliche Entdeckung“, sagt Paul van de Vooren, dessen Tante Gottschalk 1958 heiratete. 1996 sei sein Onkel im Alter von 90 Jahren gestorben, erzählt der Neffe.

Germania Bochum: Willy Kissinger bis heute „Held von Spora Luxemburg“

Auch Germania 06 Bochum war ein Vorgängerverein des VfL – ein arbeitergeprägter, katholischer Verein. „Deswegen war ich umso überraschter, dass auch in diesem Verein ein jüdischer Spieler war“, sagt Wahlig. Willy Kissinger sei 1929 von Eintracht Frankfurt, wo er Stammspieler war, zu Germania Bochum gewechselt.

Es gab jedoch kaum Meldungen, dass Kissinger auch tatsächlich für den Verein gespielt hat. „Er wurde diskreditiert, weil er gegen die Amateur-Bestimmungen verstoßen hatte“, erklärt Wahlig. Im Herbst 1933 flieht Kissinger nach Luxemburg und fand mit Spora Luxemburg einen neuen Verein. „Er wurde eine große Nummer im Fußball in diesem Land.“ Kissinger wurde dreimal in Folge nationaler Meister und „ist der Held der Mannschaft“.

Als Luxemburg im Krieg von Nazis überfallen und annektiert wurde, stand Kissinger ebenfalls auf der Deportationsliste in das KZ Auschwitz. „Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits eine Christin geheiratet“, sagt der Historiker. Dem Spieler gelingt es, seine Deportation so lange hinauszuzögern, dass der letzte Transport weg war. „Er kann den Krieg also verfolgt und unter Druck in Luxemburg überleben.“ Bis heute sei Kissinger ein anerkannter Name. „Fußball-Fans wissen noch immer von einem der Helden von Spora Luxemburg.“

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