Recklinghausen / Oberhausen. Im Rathaus von Recklinghausen zeigen die Ruhrfestspiele und das Theater Oberhausen „And now Hanau“ – eine Lehrstunde in forensischer Recherche.
Wollte man überspitzen, dann hat der schmucke Ratssaal von Recklinghausen so eine bedrängende politische Debatte nicht mehr erlebt, seit Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele, hier das Drama „Aufstand“ nach Motiven aus Schillers „Räubern“ inszenierte. Damals dominierte die enorme, für keinen Moment nachlassende physische Präsenz von fünf Salon-Rebellen. Zwölf Jahre später, mit „And now Hanau“, gilt vordringlich die Macht des Wortes und der forensischen Beweise.
Tuğsal Moğul, der Autor und Regisseur dieser Koproduktion der Theater Oberhausen und Münster mit den Ruhrfestspielen, zitiert eingangs den größten Bühnenklassiker schlechthin: William Shakespeare mit dem Monolog des sich gegen seine Ankläger wehrenden Juden Shylock: „Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?“ 425 Jahre nach dem „Kaufmann von Venedig“ setzt der Arzt und Dramatiker Moğul dagegen den Satz „Erinnern heißt verändern“, ein Zitat von Cetin Gültekin. Er ist der Bruder von Gökhan Gültekin, einem der neun am 19. Februar 2020 von einem Rassisten ermordeten Bürger Hanaus.
Im Beisein von einigen, sichtlich tief bewegten Angehörigen zeigten die Ruhrfestspiele eine Uraufführung, die sich mit üblichen Kritikermaßstäben nicht rezensieren lässt: Kein Schauspiel, sondern eine eindrucksvolle Rechercheleistung, gemeißelt in die Form eines Tribunals gegen eklatantes und bis heute nur widerstrebend aufgeklärtes Behördenversagen. „Es hört einfach nicht auf“, war – aus zwingenden Gründen – ein leitmotivisch wiederholter Satz des Ensembles mit Tim Weckenbrock und Regina Leenders (vom Theater Oberhausen), Alaaeldin Dyab und Agnes Lampkin (aus Münster).
Wenn helle Empörung die Stimme beherrscht
Sollte man etwa bemängeln, dass Dyab für den kleinen Raum – ein enges Karree auf dem Parkettboden, an drei Seiten umfasst von Stuhlreihen – durchweg zu laut sprach? Wenn doch die helle Empörung die Stimme beherrscht? Sicher wurden, von der Lokalzeitung bis zum Nachrichtenmagazin, bereits hunderte Berichte und Kommentare zu den Morden von Hanau publiziert. Und doch scheint erst Tuğsal Moğul die vielen Fragmente und Details so eindringlich und kompakt in 90 Minuten zusammengeführt zu haben. So wie einst, vor 125 Jahren, die flammende Streitschrift „J’accuse“ von Émile Zola die Wende in der antisemitischen Dreyfus-Affäre brachte.
Die Investigativjournalisten unter den Künstlern
Bei Zolas Brief an den französischen Präsidenten ging es ja auch zuerst um Beweise und deren Unterdrückung. Und nicht um sprachliche Eleganz. So stützt sich „And now Hanau“ in der sekundengenauen Rekonstruktion der Mordnacht entscheidend auf die Leistungen der Rechercheagentur „Forensic Architecture / Forensis“, quasi die Investigativjournalisten unter den Künstlern. Sie sichteten Daten von Überwachungskameras, Aufnahmen von Polizeihubschraubern, Notrufprotokolle und Zeugenaussagen. Tuğsal Moğul und sein Ausstatter Marcin Wierzchowski bringen das komplexe Material, erstaunlich schlüssig, auf einen vom Ensemble bedienten Touchscreen im Zwei-Meter-Hochformat.
So folgt man, nach den ersten Schüssen am Bahnhof, dem Auto des Täters – und seinem mutigen Verfolger Vili Viorel Păun. Er hatte während der Fahrt durch Hanau immer wieder den Notruf 110 gewählt: Niemand reagierte.
Die personell unterbesetzte und technisch völlig unzulängliche Notrufzentrale in der hessischen Fast-Großstadt war bereits vor den Morden ein zwei Jahrzehnte alter Dauerskandal. Das Tribunal im Ratssaal wechselte jeweils zwischen der minuziösen Rekonstruktion und der schaurig vermurksten „Aufarbeitung“ des Geschehens durch die Behörden. Wieder Cetin Gültekin: „Sie waren völlig überfordert im Umgang mit trauernden, traumatisierten Menschen.“ Der Vater des mit 22 Jahren ermordeten Hamza Kurtović fragte bitter: „Wie lange bleibe ich Kanake in diesem Land?“
Zu wenig: Ein Mahnmal und neue Straßennamen
„ Die Opfer waren keine Fremden“, so stand es an dem vor drei Jahren zum Gedenkort umgewidmeten Hanauer Denkmal der Gebrüder Grimm. Das Quartett im Ratssaal montiert während des letzten Aktes ein eigenes Mahnmal aus Metallrohren und bedruckten Bannern. Ihre Forderung: Man sollte belastete Straßennamen ändern. Aus Oberhausens Paul-Reusch-Straße (benannt nach einem großindustriellen Steigbügelhalter für Hitlers Aufstieg) sollte so die „Straße des 19. Februar“ werden.
Ein enttäuschender Schluss für diese Lehrstunde in forensischer Recherche. Denn ein paar neue Straßennamen wären viel zu wenig – damit es endlich aufhört.
Vom „schönsten Rathaus in NRW“ in den teuersten Ratssaal
Seit einem Online-Votum, 2020 ausgerufen vom Landesministerium für Heimat und Kommunales, firmiert das Recklinghäuser Rathaus als schönstes im ganzen Land NRW – für die Uraufführung von „And now Hanau“ vielleicht sogar ein zu schöner Schauplatz.Doch Politikflair wünscht sich das Theater Oberhausen auch für die Premiere in der eigenen Stadt: Ab 21. September 2023 will Autor und Regisseur Tuğsal Moğul sein Werk im Oberhausener Ratssaal zeigen.Die große Frage: Steht der Raum dann überhaupt „schon“ zur Verfügung? Denn Überraschungen vom brüchigen Boden bis zur Wiederentdeckung einer einzigartigen „Art Deco“-Stuckdecke sorgten seit 2021 für Verzögerungen und enorme Kostensteigerungen bei der Renovierung des Ratssaals im Oberhausener Rathaus. Längst wuchs sich der Ratssaal zum Sieben-Millionen-Euro-Projekt aus.