Mülheim. Im Stadtarchiv Mülheim erforschen Schüler den Weg jüdischer Bürgerinnen und Bürger, denen die Flucht aus NS-Deutschland nach Israel geglückt ist.
Das Geschichtsteam vom Projekt „Israel“ aus der elften Jahrgangsstufe des Gymnasiums Heißen befindet sich noch in der Suchphase. Dienstags steht Recherche im Mülheimer Stadtarchiv an – unterstützt vom stellvertretenden Archivleiter Jens Roepstorff. Die Gruppe will jüdischen Bürgerinnen und Bürgern auf die Spur kommen, die während des Nationalsozialismus aus Deutschland haben fliehen können und nach Israel auswanderten.
Es ist ihr drittes Treffen im Stadtarchiv: Vor den Schülern liegen dicke Mappen, gefüllt mit Zeitungsausschnitten – kopiert und im Original –, doch hauptsächlich mit Schreiben des Pfarrers i.R. Gerhard Bennertz. Der hat seine ausführliche Korrespondenz mit ehemaligen Mülheimerinnen und Mülheimern nicht nur gesammelt und nach Familiennamen sortiert, sondern auch dem Stadtarchiv vollständig überlassen. Nur deshalb ist es möglich, dass Julia Henßen, Mika Seifert, Sophia Trümper und Lea Marie Brosch dieses spannende, wenn auch schwierige Thema erarbeiten können.
Projektgruppe möchte Nachfahren ehemaliger Mülheimer in Israel ausfindig machen
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Die vier wollen Nachfahren ehemaliger Mülheimerinnen und Mülheimer in Israel ausfindig machen und mit ihnen in Kontakt treten. Um dann zu erfahren, wie deren deutsche Vorfahren den Holocaust erlebt, wie sie sich dabei gefühlt haben. Dabei können sie auf Unterstützung durch die israelischen Schulfreundinnen und -freunde in Tira und der Mülheimer Partnerstadt Kfar Saba hoffen, mit denen sie in virtuellem Austausch stehen. „Das ist interessant“, sagt Lea. „Wir kennen ja nur unsere Perspektive.“
Die Suchphase gestaltet sich umfangreicher als geahnt, denn bei den vielen Namen, die Bennertz aufgelistet hat, handelt es sich um alle jüdischen Geflüchteten, egal, wohin sie gingen. Das 2004 erschienene Buch „Juden in Mülheim an der Ruhr“ von Barbara Kaufhold bildet die Basis, den Ausgangspunkt ihrer Forschungen. Die darin befindliche „Liste der Namen jüdischer Mitbürger“ glichen die vier Jugendlichen mit der Bennertz-Liste ab. Jetzt geht’s in die Tiefenrecherche, und so versenken sich die vier wieder in die Unterlagen, in denen sich so viele Leben von jüdischen Vertriebenen verbergen.
Manche Briefe sind handschriftlich, zum Teil auch auf Hebräisch
Die Korrespondenz ist zum Großteil auf Deutsch und maschinengeschrieben. Aber manche Briefe sind auch handschriftlich, einige aus Israel stammende auch mal auf Hebräisch, zum Glück mit deutscher Übersetzung. „Wir suchen die ausführlichsten Unterlagen“, führt Julia aus. Darin stecken hoffentlich die meisten Informationen, um die Familiengeschichten so genau wie möglich nachzeichnen zu können, eben auch mithilfe der israelischen Schulstandorte.
Jeweils zu zweit wollen sie eine jüdische Familie detailliert erforschen. Doch welche wollen sie nehmen? Ein Name klingt erst vielversprechend, weil viel Material vorhanden ist, doch dann die Erkenntnis: Ein Teil dieser Familie ist in die USA ausgewandert: ausgeschieden. Oder doch nicht? Manche Entscheidungen sind einfacher, wenn etwa Geflüchtete zwar in Israel landeten, dort allerdings nicht blieben, sondern nach Australien weiterzogen.
„Das ist ein Projektkurs mit wahrem Projekt-Charakter“, sagt der Lehrer
Schon das Eingrenzen ist sehr zeitaufwendig. Lehrer Roland Guderley weist auf weitere, deutlich umfangreichere Ordner der „Sammlung Bennertz“ hin. Derweil streut Jens Roepstorff ein, dass es auch noch einiges an Bildmaterial gebe, und hält Foto-Ordner hoch. „Das ist ein Projektkurs mit wahrem Projekt-Charakter“, sagt Guderley. „Das ist auch für uns Lehrkräfte neu.“ Er rät seinen Schützlingen, sich allmählich auf zwei Namen festzulegen. Ansonsten hält er sich aber raus aus deren Recherche, gibt nur bei Bedarf Tipps, liefert Ideen. Es ist schließlich ein Projekt dieser vier Schülerinnen und Schüler.
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„Das ist normale Archiv-Arbeit. Man stößt auf eine Sache, gräbt weiter, und dann muss man sich entscheiden, wie man weitermacht“, sagt Roepstorff. Inzwischen ist auch schon wieder eine Schulstunde vergangen, doch bis jetzt steht erst ein Name fest. Dabei endet das Projekt am Ende des Schuljahres, im Sommer 2022.
Ein Idee könnte sein, Stolpersteine für die Geflüchteten zu setzen
Lehrer Guderley lässt das Stichwort „Zeitplan“ fallen. Die Jugendlichen schrecken hoch von ihren jeweiligen Ordnern, ein Finger bleibt an der Stelle, bis zu der sie vorsichtig geblättert haben. Ein Zeitplan erscheint ihnen womöglich verfrüht, zumal Guderley noch von einer neuen Idee erzählt, nämlich Stolpersteine für die aus Mülheim Geflüchteten zu setzen. So viele Möglichkeiten, so viel Material, solch ein interessantes Thema: Auf die Präsentation der Projektergebnisse – auch der künstlerischen – darf man gespannt sein.