Mülheim. Nach dem Aufruf dieser Zeitung haben sich Dutzende Mülheimer gemeldet und aus den 50ern berichtet: von der fantastischen Begegnung mit dem Wal.

Gisela Graichen irrt nicht! Dieser Satz steht in vielen E-Mails, die die Redaktion und das Mülheimer Stadtarchiv erreicht haben. Es gab tatsächlich eine Wal-Schau in Mülheim, vielleicht sogar mehrere. Die vagen Erinnerungen, die Graichen an das Ereignis ihrer Kindheit hat, haben sie nicht getäuscht. Dutzende Mülheimer habe sich nach dem Aufruf der Zeitung gemeldet und begeistert geschildert, wie beeindruckend die Begegnung mit dem Tier einst war. Leider steht noch nicht fest, wann genau der Koloss in der Stadt war – die Recherche läuft. Vielleicht gibt es weitere Leser, die helfen können.

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Hans Jürgen Horstmann (77) zum Beispiel hat den präparierten Wal auf dem Eisenbahnwaggon gesehen. „Das war schon doll.“ Das Tier habe auf einem Nebengleis des damaligen Bahnhofs Eppinghofen gestanden, ungefähr dort, wo sich heute die Hauptpost und der Radschnellweg befinden. Zwischen 1950 und 1952 muss das gewesen sein, schätzt Horstmann. Er sei dort oft vorbeigekommen, weil der Großvater in der Nähe ein Holzgeschäft hatte. Bis heute zehrt der Mülheimer von der Erinnerung, „in natura habe ich leider noch keinen Wal gesehen“.

Für die ZDF-Serie „Terra X“ viel in der Welt unterwegs

Anders Gisela Graichen: Die Filmemacherin, die in Mülheim aufgewachsen ist und mittlerweile in Hamburg lebt, ist für die ZDF-Serie „Terra X“ viel in der Welt unterwegs. Für eine Story über die Wikinger war sie unter anderem in Grönland. Dort ging es auch um Wale, Walfleisch und Walfang. Und plötzlich war da dieser Fetzen Erinnerung: „Ich habe zum Team gesagt: ,Ich habe doch auch schon mal einen Wal gesehen’.“ Wo denn, wollten die Kollegen wissen. Die Antwort „Im Ruhrgebiet“ brachte sie zum Lachen.

Gisela Graichen mit einem Mitglied des Drehteams auf Grönland, einem „Sehnsuchtsland“, wie sie sagt. Dort fiel der Filmemacherin die Geschichte vom Mülheimer Wal wieder ein.
Gisela Graichen mit einem Mitglied des Drehteams auf Grönland, einem „Sehnsuchtsland“, wie sie sagt. Dort fiel der Filmemacherin die Geschichte vom Mülheimer Wal wieder ein. © Gisela Graichen

Graichen ließen die unscharfen Bilder aus der Kindheit nicht mehr los; ihre alten Freundinnen aus Mülheim aber konnten nichts Erhellendes beitragen. Und so war sie irgendwann nicht mehr sicher, ob sie von dem „großen Viech“ nur geträumt oder ihr die Fantasie einen Streich gespielt hatte. „Mein Job ist ja bis heute, Geschichten erfinden“, erzählt die Buch- und Filmautorin und lacht.

Recherche im Zeitungsarchiv ist schwierig

Doch die zig Reaktionen der Mülheimer belegen das Geschehen eindeutig. Leider waren die meisten von ihnen noch klein, als Wal-Schauen in Deutschland modern waren. Und so sind die Erinnerungen eher verschwommen als präzise, was die Recherche im umfangreichen Zeitungsarchiv erschwert. Rudi Siepmann, Jahrgang 1948, glaubt zum Beispiel, dass der Wal nicht vor 1953 in der Stadt war. Zu einem früheren Zeitpunkt könne das Spektakel nicht gewesen sein, „ich kann mich nämlich gut daran erinnern“. Paul Heidrich hält es sogar für denkbar, dass das exotische Tier erst nach Ostern 1954 gezeigt worden ist – „ab dann führte mich mein Schulweg immer dort vorbei“.

Erika Wittholz, die die spannende Story ihren fünf Enkelkindern schon oft erzählt hat, ist dagegen sicher, dass sie sich schon um 1950 ereignet haben muss. „Meine Mutti schlug damals einen Ausflug vor. Zu Fuß ging es die Aktienstraße runter, dann zum Eppinghofer Bahnhof, dem jetzigen Hauptbahnhof. Man musste, glaube ich, etwas Eintritt bezahlen, um das größte Tier der Erde anzusehen.“

Die Haut „war dunkel und sah stellenweise aus, als sei sie lackiert“

Schülerin Erika war „gespannt wie ein Flitzebogen“, Tiere interessierten sie sehr. „Es ging – wie auch heute noch – die Stufen zum Bahnsteig rauf und dann lag da auf mehreren, offenen Güterwagen: ein riesiger Blauwal! Der Kopf zeigte in Richtung Styrum und bis zur Fluke – der Schwanzflosse – musste man schon ein Stück laufen.“ Die Haut des Tieres „war dunkel und sah stellenweise aus als sei sie lackiert“. Bis heute hat Wittholz das Geschöpf vor Augen: „Am meisten beeindruckt hat mich sein Maul. Das stand weit auf, man konnte hineingucken und die sehr vielen, langen, schwarzen Barten bestaunen und den winzigen Schlund.“

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Das Gesehene hat sich eingebrannt ins Gedächtnis. Erika Milhorst erging es ähnlich: „Mich hat das damals so sehr beeindruckt, dass ich bis heute daran denke, wenn ich irgendwo etwas über Wale höre oder lese.“

Die Tiere trugen Namen und im Ruhrgebiet war wohl „Jonas“ unterwegs

Dass es ein Blauwal gewesen sein könnte, den die Menschen damals bestaunten, hält Alfred Schmidt für unwahrscheinlich. „Die sind viel zu groß“, so der Hobby-Historiker aus Emden in Ostfriesland, der sich seit Jahren mit allen möglichen Facetten von Walen beschäftigt und das Fachmagazin „Fluke“ herausgibt. Auch über die Zurschaustellung der Wale hat er viele Informationen gesammelt. Bei den Tieren, „mit denen sich damals gut Geld verdienen ließ“, habe es sich in aller Regel um „Finnwale“ gehandelt. „Die meisten kamen aus Norwegen und wurden nur zu diesem Zweck gefangen“, erzählt der 69-Jährige.

Die Tiere trugen Namen und auf Plakaten und in Zeitungsannoncen wurde ihre Visite groß angekündigt. Im Ruhrgebiet, glaubt Schmidt, dürfte „Jonas“ vorgeführt worden sein; „das war der erste, der damals unterwegs war“. Später seien dann auch mehrere Aussteller gleichzeitig durchs Land getingelt, ähnlich wie die Zirkusse.

Selbst in der DDR waren die Kolosse eine Attraktion

Es gab Wale, die auf Waggons transportiert wurden oder auf riesigen Lastwagen – oder auf großen Kähnen Flüsse wie Rhein, Mosel und Havel hinabfuhren. Selbst in der DDR kannte man die Kolosse: „Ich bin zwar schon 30 Jahre in Mülheim, komme aber gebürtig aus Jena in Thüringen“, erzählt Cornelia Piehl. Beim Lesen des Artikels seien auch ihr sofort Kindheitserinnerungen gekommen. „Sogar bei uns in Thüringen gab es solche Wanderausstellungen, oft nur einen Tag. Ich erinnere mich noch heute an den Gestank und die imposante Größe des Tieres, das in einem Zelt lag.“ Piehl datiert das Ereignis auf „1964 oder 1965“ – als ungefähr sechsjähriges Mädchen habe sie damals sofort an Pinocchio im Bauch des Walfisches denken müssen.

Zeitzeugen halfen auch bei der Recherche zur Mülheim-Mumie

Mehrfach hat diese Zeitung bei der Aufklärung von spannenden Kapiteln Mülheimer Geschichte geholfen: Vor einigen Jahren ging es zum Beispiel um die so genannte Mülheim-Mumie, ein rund 2700 altes Relikt aus dem alten Ägypten, das viele Jahre in der Biologischen Sammlung des Karl Ziegler-Gymnasiums lagerte.

Auch damals hatten Zeitzeugen beim Lösen des Falles geholfen. Das gelingt hoffentlich auch diesmal wieder! Wir hoffen weiter auf Beiträge zu den Wal-Ausstellungen in Mülheim. Vielleicht kennt jemand ein genaues Datum, vielleicht gibt es Fotos, Eintrittskarten oder Annoncen. Wer Informationen beisteuern kann, meldet sich bitte unter oder 0208/4430831.

Wer sich für Gisela Graichens Arbeit näher interessiert, kann sich zwei aktuelle Sendungen der Reihe „Ungelöste Fälle der Archäologie“ beim ZDF ansehen: Am Sonntag, 7. Februar, 19.30 Uhr, geht es bei Terra X um „Mumien“ und am Sonntag, 14. Februar, 19.30 Uhr, um „Verlorene Welten“.

Erinnerungen an eine Wal-Tour in den frühen 60ern hat auch Stadtsprecher Volker Wiebels, der erst 1956 geboren worden ist. Mit seinen Geschwistern ging Wiebels regelmäßig zu einem Zoogeschäft nahe des heutigen Hans-Böckler-Platzes, um Fische zu kaufen. An einem Tag habe er dort „einen 40-Tonner“ gesehen, auf dem ein Wal lag. Mit den Eltern habe er sich angestellt, Eintritt bezahlt – und dann gestaunt. „Das war schon spektakulär, ein Ereignis für die ganze Stadt.“

Auch auf dem Saarner Kirmesplatz soll ein Tross Halt gemacht haben

Nach dem Fang wurden dem toten Wal mit Schläuchen Konservierungsmittel in die Haut gespritzt, berichtet Experte Alfred Schmidt, „hoch giftiges Zeug, das heftig stank“.
Nach dem Fang wurden dem toten Wal mit Schläuchen Konservierungsmittel in die Haut gespritzt, berichtet Experte Alfred Schmidt, „hoch giftiges Zeug, das heftig stank“. © Magazin Fluke | Alfred Schmidt

Andere Mülheimer berichten davon, dass auch auf dem Saarner Kirmesplatz oder am Bahnübergang Heerstraße in Speldorf ein solcher Tross Halt gemacht hat. Orte und Zeiten variieren zum Teil stark in den Schilderungen.

Möglich waren all diese Erlebnisse übrigens nur, weil die Wale zumeist von innen mit Holzgerüsten stabilisiert und mit Aggregaten im Bauch kühl gehalten wurden. „Lediglich die Außenhaut war noch echt“, erzählt Wal-Experte Alfred Schmidt. „Nach dem Fang wurden mit Schläuchen Konservierungsmittel in die Haut gespritzt, das war hoch giftiges Zeug, was heftig stank.“ Auch während der von vielen Menschen gefeierten Touren durchs Land seien die toten Tiere immer wieder mit dieser Mixtur eingerieben worden. So bekamen auch Mülheimer Kinder, weitab vom Meer, die Chance auf eine ganz besondere Begegnung.