Was der neue Justizminister Marco Buschmann, Innenpolitikerin Irene Mihalic und EU-Kenner Markus Töns jetzt für Gelsenkirchen versprechen.

Die neue Ampel-Koalition will ein Bündnis „für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ sein. So jedenfalls haben SPD, Grüne und FDP ihren Koalitionsvertrag überschrieben, den sie nach auffällig diskreten Verhandlungen am Mittwoch der Öffentlichkeit vorgestellt haben. Doch was steckt in dem Papier eigentlich für Gelsenkirchen? Wie sollen verschuldete Kommunen, die vor immensen Integrationsherausforderungen stehen, entlastet werden? Was verspricht der erste Gelsenkirchener Bundesminister seiner Heimatstadt und was kann Deutschland von Gelsenkirchen lernen?

Der neue Justizminister Marco Buschmann (FDP), die innenpolitische Expertin der Grünen, Irene Mihalic, und EU-Politiker Markus Töns (SPD) stellen sich im exklusiven WAZ-Gespräch den Fragen der Lokalredaktion. Alle drei haben nicht nur gemeinsam, dass ihre Parteien die künftige Bundesregierung stellen werden, das Trio ist auch dafür angetreten, die Interessen der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener im Bundestag bzw. im Bundeskabinett zu vertreten.

Ausgeschlafen im übertragenen Sinn werden sie hoffentlich sein, im Wortsinn sei sie es noch nicht, wie Irene Mihalic nach wochenlangen „intensiven Verhandlungen“, wie sie sagt, mit einem Lachen einräumt. Doch die Mühe habe sich gelohnt. Auf diesen Koalitionsvertrag könne man auch als Grüne stolz sein.

Altschuldenfonds - So will die Ampel-Koalition Kommunen von Kreditzinsen befreien

Marco Buschmann indes fühlt sich „nach endlich mal wieder sieben Stunden Schlaf relativ erholt.“ Zuletzt seien es immer nur drei bis vier Stunden gewesen, berichtet der Liberale. Am Ende, da sind sich aber alle drei einig, sei man zu einem guten Ergebnis für Deutschland und für Städte wie Gelsenkirchen gekommen.

Was damit gemeint ist? Zum Beispiel der Altschuldenfonds. „Ich kann aus dem Koalitionsvertrag eines herauslesen: Es ist viel möglich, wenn man nicht auf Konservative angewiesen ist“, sagt der direkt gewählte Abgeordnete Markus Töns. So ließe sich eine viel stärkere zukunftsorientierte Politik gestalten. „Uns ist es etwa gelungen, die Altschuldenfrage in den Koalitionsvertrag zu schreiben. Wir wollen diese Frage endlich lösen“, so Töns.

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„Städte, die wie Gelsenkirchen Strukturbrüche erleiden mussten, sollen unterstützt werden. Die Altlasten sollen auf einen Fonds übertragen werden, deren Zinslast dann der Bund trägt. So ermöglichen wir vor Ort wieder Spielraum für mehr Zukunftsinvestitionen.“, konkretisiert Buschmann, was die Ampel plant. In Gelsenkirchen belaufen sich die Schulden aktuell auf rund 548 Mio. Euro (rund 2068 Euro je Einwohner), wodurch - trotz des derzeit historisch niedrigen Zinsniveaus - allein in 2021 jährliche Zinsaufwendungen von rd. 7,5 Mio. Euro entstehen werden. Wie groß darunter der Anteil der Altschulden ist, müsste jedoch genau gesetzlich definiert werden.

Darüber hinaus, das betont Mihalic, sollen die Städte auch entlastet werden, indem ihr Eigenanteil bei Förderprogrammen angepasst werden soll. Städte, die selber nicht viel Geld aufbringen können, aber besonders auf die Investitionen angewiesen sind, sollen weniger oder gar keinen Eigenanteil aufbringen müssen.

Investitionen in Wasserstoffindustrie und Ideen für die ganze Republik

Positive Auswirkungen könne Gelsenkirchen auch auf anderem Feld erfahren, glaubt Buschmann. „Wir wollen ein Jahrzehnt der Investitionen einleiten. Die enorme Förderung der Wasserstoffindustrie etwa kann für das nördliche Ruhrgebiet eine große Chance sein.“

Hier waren die Ampel-Koalitionäre noch Konkurrenten: Die Kandidaten zur Bundestagswahl (v.l.) Dr. Irene Mihalic (Grüne, per Video), Ayten Kaplan (Die Linke), Laura Rosen (CDU), Markus Töns (SPD) und Dr. Marco Buschmann (FDP) bei einer DGB-Wahlkampfveranstaltung im August 2021.
Hier waren die Ampel-Koalitionäre noch Konkurrenten: Die Kandidaten zur Bundestagswahl (v.l.) Dr. Irene Mihalic (Grüne, per Video), Ayten Kaplan (Die Linke), Laura Rosen (CDU), Markus Töns (SPD) und Dr. Marco Buschmann (FDP) bei einer DGB-Wahlkampfveranstaltung im August 2021. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Zudem, ergänzt Buschmann, „gibt es Ideen, die hier in Gelsenkirchen erstmals umgesetzt wurden und jetzt bundesweit Schule machen sollten“. Gemeint sind die Talentscouts und Talentschulen. Sie seien gute Instrumente, um Kindern aus sozial schwierigen Verhältnissen eine Chance zu geben, um aufzusteigen. Seiner Parteikollegin, die künftige Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger, werde Buschmann die Gelsenkirchener Projekte wie die Talentscouts und Talentschulen auf jeden Fall erläutern und sie, wenn möglich, persönlich nach Ückendorf einladen, um Chancen und Herausforderungen aufzuzeigen. „Wir wollen als Bund stärker in die Finanzierung einsteigen und mit einem Sozialindex genauer hinschauen, wie die Schülerstrukturen an den einzelnen Schulen sind, damit die Mittel auch dort ankommen, wo sie gebraucht werden“, so Buschmann. Zum Thema: Sozialindex: Nur eine Gelsenkirchener Schule hoch belastet?

Kindergrundsicherung soll Kinderarmut bekämpfen

„Und wir haben auch diejenigen nicht vergessen, die nicht von alleine in der Lage sein werden, aufzusteigen aus der Armut“, sagt Irene Mihalic. Als ersten, aber wichtigen Schritt dafür nennt die Grüne beispielhaft die Kindergrundsicherung, in der verschiedene Leistungen wie Kindergeld und Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch gebündelt werden, damit „endlich die Kinder im Mittelpunkt stehen und Gelder automatisch ausgezahlt werden, ohne dass komplizierte Anträge zur für viele abschreckenden Hürde werden.“

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„Das Ganze soll digital passieren, also weg von der Zettelwirtschaft“, sagt Buschmann. „Das spart Verwaltungskosten. Es ist aber auch menschlicher. Denn das fürchterliche Bürokratendeutsch der Anträge ist eine Hürde für viele Menschen, denen gesetzliche Leistungen eigentlich helfen sollen. Es gibt Leistungen, bei denen sogar die Bundesregierung nur einen Bruchteil der Mittel in den Haushalt einstellt, die den Menschen eigentlich zustehen. Denn sie geht davon aus, dass die Anspruchsberechtigen am Antragswesen scheitern. Das ist eine zynische Vorgehensweise, die wir beenden werden.“

Mihalic und Töns sind überzeugt, dass das Kindergrundsicherungsversprechen der Ampel das „Zeug dafür hat, Kinderarmut effektiv zu bekämpfen“.

Weg von Hartz IV, hin zum Bürgergeld

Profitieren sollen viele Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener aber auch vomBürgergeld, welches das Hartz-IV-Modell ablösen soll. Was die Koalitionäre versprechen?

Verbesserte Hinzuverdienstgrenzen“, sagt Buschmann und führt weiter aus: „Das Absurde bisher ist, dass Menschen, die über Mini- oder Midijobs wieder in den Arbeitsmarkt zurückkommen, nicht spürbar besser stehen als vorher. Denn von jedem hinzuverdienten Euro müssen bis zu 80 Cent abgegeben werden. Das ist unfair und demotivierend. „Mit dem Bürgergeld sollen außerdem die Bürokratiekosten gesenkt und das eingesparte Geld auch dafür investiert werden, Menschen beruflich zu qualifizieren“, ergänzt Mihalic.

Töns: „Das ist eine Überwindung der Hartz-Reformen, die zu ihrer Zeit ihre Berechtigung hatten, aber jetzt modernisiert werden müssen. Wir Wir werden den Menschen deutlich machen, dass die Gesellschaft solidarisch ist, und wir wollen eine Ausbildungsgarantie für die Jungen geben.“

So sollen die Probleme der Armutszuwanderung aus Südosteuropa angegangen werden

In den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde nicht zuletzt auf Drängen der Gelsenkirchener Verhandlungsteilnehmer der knappe Satz: „Wir schaffen ein Bundesprogramm zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration von Menschen aus (Süd)ost-Europa.“

„Dieses Thema ist uns allen sehr wichtig. Armutsmigration hängt in Gelsenkirchen eng mit der Schrottimmobilienwirtschaft zusammen. Wir werden uns daher ausländische Immobilienerwerber sehr viel genauer anschauen und ein Gesetz auf den Weg bringen, dass künftig jeden Käufer dazu verpflichtet, eine ladungsfähige Adresse im Grundbuch zu hinterlegen. So können die Ordnungsbehörden schneller und effektiver gegen Verstöße vorgehen, insbesondere wenn es sich bei den Eigentümern um internationale Fonds mit unklarer Struktur handelt“, sagt Buschmann.

„Dass es überhaupt zu einem Bundesprogramm zur Stärkung der Teilhabe und Integration kommt, sehe ich als einen Erfolg der SPD im Ruhrgebiet. Das ist genau der Unterschied zu dem, was die CDU aktuell macht. Wir schaffen einen Handlungsspielraum für Kommunen, statt einer Angstrhetorik, die keinem hilft“, unterstreicht Töns.

Ähnlich scharf kritisiert auch Buschmann Äußerungen von CDU-Politkern, die vor der Entscheidung der Ampel warnen, die Familienzusammenführung von Flüchtlingen zu erleichtern. „Es wird mit viel Angst gearbeitet. Das ist der taktische Versuch der CDU, in grotesk verzerrter Weise die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen schlecht darzustellen. Dabei weiß auch die CDU, dass wir Erwerbsmigration brauchen in diesem Land. Gleichzeitig haben wir auch eine Menge Punkte auf den Weg gebracht, um Rückführungen von Menschen zu verbessern, die kein Recht haben, sich bei uns aufzuhalten“, verspricht der FDP-Politiker.

Fehler der Vergangenheit sollen nicht wiederholt werden

Fehler der Vergangenheit sollen nicht wiederholt, Hinzugezogenen „von Anfang an Integrationsangebote gemacht werden“, sagt Mihalic. Und das Zusammenführen von Familien fördere vielmehr die Integration, als dass es Probleme schaffe, ist sich die Bueranerin sicher. Unterstützt werden sollen die Städte bei der Integration durch eine Verstetigung der Beteiligung des Bundes an den flüchtlingsbezogenen Kosten und zusätzlichen Integrationsleistungen des Bundes.

Vieles werde sich ändern, sagen Mihalic, Töns und Buschmann voraus. Für den künftigen Bundesjustizminister gilt das ohne jeden Zweifel. So richtig habe er noch gar nicht realisiert, was da auf ihn zukommen wird, gesteht Marco Buschmann im WAZ-Gespräch. Eine tiefe Dankbarkeit diese große Aufgabe übernehmen zu dürfen, verspüre er. Dennoch hofft der 44-Jährige, dass sich nicht alles in seinem Leben ändern werde, er etwa auch weiterhin zu Fuß zur Arbeit gehen könne, am liebsten ohne Personenschützer. „In jedem Fall bin ich auch ein Stück weit stolz, stellvertretend für jede Gelsenkirchenerin und jeden Gelsenkirchener am Kabinettstisch sitzen zu dürfen“.