Mülheim. Zum zweiten Mal geht ein Chemie-Nobelpreis ans Mülheimer MPI für Kohlenforschung. Der Jubel war grenzenlos. Und Ben List sprach von einem Wunder.
Als ob das Laborgebäude des Mülheimer Max-Planck-Instituts für Kohlenforschung eigens für diesen Moment gebaut worden wäre: Als der frisch gebackene Nobelpreisträger Prof. Dr. Benjamin List am Mittwoch gegen kurz vor sechs im Innenhof des MPI aus dem Auto steigt, jubeln und klatschen von den umlaufenden Balkonen über vier Etagen Kollegen und Mitarbeiter.
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In Amsterdam hatte List am Vormittag die freudige Botschaft ereilt, beim Frühstück mit seiner Frau im Café. „Sein Telefon klingelte und ich habe unseren üblichen Spruch gemacht: Das ist bestimmt Schweden“, so Sabine List. Und es war tatsächlich Stockholm – mit der unfassbaren, schönen Nachricht, dass List und der in Schottland geborenen US-Forscher David W.C. MacMillan gemeinsam ausgezeichnet werden.
Seit Jahren wurde List in Fachkreisen als heißer Anwärter für den Nobelpreis gehandelt
Unbändige Freude herrschte auch am MPI, als die Nachricht von Nobelpreis Nummer zwei für Mülheims Top-Chemiker die Runde machte. 1963 war Karl Ziegler ausgezeichnet worden. Seit einigen Jahren wurde Benjamin List in Fachkreisen als heißer Anwärter für den berühmtesten Wissenschaftspreis gehandelt – am 6. Oktober 2021 um kurz vor zwölf wurde der Traum Wirklichkeit!
Via Livestream hatten viele Kollegen und Mitarbeiter die Verkündung des Chemie-Nobelpreises mitverfolgt. Darunter Lists Doktorand David Diaz (31), der gerade am Rechner saß. „Die haben Schwedisch gesprochen, ich habe kein Wort verstanden – aber seinen Namen habe ich gehört.“ Eigentlich, so der junge Wissenschaftler aus Kolumbien, hätten viele damit gerechnet, dass ein Beitrag zur Bekämpfung von Corona ausgezeichnet werden würde, „die Entwicklung des mNRA-Impfstoffes“. Aber dann wurde es doch der Doktorvater. . . „Und ich war überglücklich!“
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Mülheimer Postdoc schrie vor Freude so laut, dass Kollegen dachten, es würde brennen
Diaz schrie seine Freude heraus – genau wie Postdoc Sayantani Dias, die seit 2014 mit List in der Abteilung für Homogene Katalyse zusammenarbeitet. Sie war gerade im Labor zugange, „und ich habe so laut geschrien, dass Kollegen dachten, es brennt. . .“ Es sei ein Wahnsinn, dass nach dem 1963 an Karl Ziegler verliehenen Chemie-Nobelpreis nun erneut die höchste Ehrung an das Mülheimer Institut gehe.
Mit ihrem Handy hatte Sayantani Dias das erste Telefonat des MPI-Teams mit List gefilmt: „Cheers“, rufen die völlig euphorischen Kollegen, und „Hurry up!“. Sie fordern den breit grinsenden Chef auf, so schnell wie möglich nach Mülheim zurückzukehren. Zum großen Empfang!
„Dass seine Entdeckung in der Nobelpreiskategorie spielt, wussten wir längst“
Nobelpreis liegt in der Familie
Mülheims zweiter Nobelpreisträger Benjamin List war schon als Schüler ein Forschergeist, mit seinem eigenen Chemielabor, in dem er mit Schwarzpulver experimentierte. In gewisser Weise hatte er das wohl im Blut: Sein Ururgroßvater war Jacob Volhard (1834-1919), ein Schüler des Chemie-Pioniers Justus von Liebig.
Seine Tante Christiane Nüsslein-Volhard, Entwicklungsbiologin und Max-Planck-Kollegin in Tübingen, erhielt 1995 ebenfalls den Nobelpreis, und zwar jenen für Medizin. Sie wurde seinerzeit für ihre Entdeckungen zur genetischen Steuerung der frühen Embryonalentwicklung ausgezeichnet.
Dass dieser wirklich groß werden würde, das war spätestens gegen Nachmittag klar, als nahezu alle Fernsehsender Kameras und Mikrofone aufgebaut hatten und zig Journalisten ungeduldig auf Lists Ankunft warteten. Als er endlich da war und der Beifall nicht mehr zu stoppen, knallten Champagnerkorken und die Sekretärin vergoss Freudentränen. Erster Gratulant mit riesigem Blumenstrauß war Prof. Dr. Ferdi Schüth, geschäftsführender Direktor.
Dass das Mülheimer MPI für Kohlenforschung nun zwei wissenschaftliche Superstars in seinen Reihen hat, nannte Schüth einen „Hammer“. Seit vielen Jahren ist er enger Wegbegleiter von Ruhrpreisträger List und weiß dessen Arbeit wie kaum ein anderer einzuschätzen: „Dass seine Entdeckung in der Nobelpreiskategorie spielt, wussten wir und viele andere schon längst. Wenn es dann aber tatsächlich passiert, ist man trotzdem total überrascht.“ Andernfalls, so witzelt Schüth, hätte er an diesem besonderen Tag ganz sicher keinen Pulli angezogen, „sondern zumindest mal ein Jackett“. Und Ben List, so glaubt er, wäre wohl kaum zu einem privaten Ausflug in die Niederlande aufgebrochen.
„Vergleichbar mit dem finalen Tor im WM-Endspiel an einem lauen Sommerabend“
Als die Sensation klar war, hatte Ferdi Schüth sie via Haus-Sprechanlage durchs ganze Institut gerufen – „normalerweise nutzen wir das System nur für Probealarme“. Der Jubel, der ausbrach, „war vergleichbar mit dem finalen Tor im WM-Endspiel an einem lauen Sommerabend“.
Vor der Nobelpreis-Medaille lichteten die Journalisten den Preisträger ab, Sohn Paul amüsierte sich über das tausendfache Klicken der Kameras. Dann ging’s zur Pressekonferenz: List sprach von „einem einzigen Wunder“ und erzählte davon, wie er David W.C. MacMillan, der für das Nobelpreis-Komitee zunächst nicht zu erreichen war, eine Textnachricht geschickt habe. Mit den Worten: „Wach auf!“ Sein Mitstreiter habe die Nachricht nicht fassen können.
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Ähnlich erging es auch Sabine List, der Ehefrau, am Mittwoch mehrfach: „Man denkt die ganze Zeit, man wacht gleich auf aus diesem wahnsinnigen Traum.“ Dass seine Frau bei der Verkündung an seiner Seite war, fand Ben List wunderbar: „Sie hat die ganze Entwicklung ja von Tag eins an mitgekriegt.“ Nun hoffe er, dass die Nobelpreis-Verleihung im Dezember in Stockholm tatsächlich in Präsenz stattfindet. Einen Smoking, um dem schwedischen König standesgemäß gegenübertreten zu können, besitze er übrigens noch nicht, verriet List.
Kollege Ferdi Schüth nennt Lists Entdeckung eine „Revolution“
Direktor Schüth umschreibt Lists Fachgebiet mit kurzen, prägnanten Worten, die auch ein Laie versteht: „Unser Institut befasst sich mit Katalyse, einer Schlüsseldisziplin in der Chemie.“ Seit rund 150 Jahren werde daran geforscht, „und lange Zeit gab es nur drei unterschiedliche Typen von Katalysatoren“. Ben List habe dann Anfang der 2000er-Jahre „ein viertes katalytisches Konzept entdeckt“. Schüth spricht von einer „Revolution“. Lists Entdeckung habe ihre Stärken vor allem in der pharmazeutischen Industrie, etwa bei der Herstellung von Wirkstoffen für Medikamente oder bei der Herstellung von Duftstoffen, die später etwa in Parfüm oder Seife stecken.
Doktoranden kaufen Champagner für den großen Empfang
Sebastian Schwengers (29), ebenfalls Doktorand bei List, ist superstolz auf seinen Chef – „und darauf, in seiner Gruppe eine Art Beitrag zu seiner Arbeit leisten zu können“. In zwei Wochen wird der 29-Jährige seine Doktorarbeit bei List verteidigen, „ich freue mich schon darauf“. Der 53-Jährige sei „der beste Chef, den man sich nur vorstellen kann“. Deshalb müsse er jetzt Champagner kaufen gehen, sagte Schwengers gegen 13.30 Uhr – „für die große Party gleich“. Da war Ben List noch auf dem Weg nach Mülheim.