Essen. Der Fall Gustl Mollath hat eine Urangst vieler Menschen geweckt: Zu Unrecht über Jahre hinweg in einer Psychiatrie eingesperrt zu sein. Bei Reinhold Beckmann in der ARD berichtet Mollath von persönlichen Erlebnissen aus dieser Zeit. Die ebenfalls eigeladene Gutachterin bestätigt indessen, wie undurchsichtig ihre Branche teilweise arbeitet.

Es erinnert ein wenig an „Einer flog über das Kuckucksnest“: Mit Medikamenten ruhiggestellt, willkürlichen Vorschriften und Strafen ausgesetzt, unmündig und unerhört – so sehe der Alltag in deutschen Psychiatrien aus, behauptet Gustl Mollath bei Reinhold Beckmann. Dieses beängstigende Bild wird jedoch von der Psychiaterin und Gutachterin Dr. Hanna Ziegert bestätigt. Der Unterschied zwischen Unschuld und Wahnsinn liege oft in den Händen bestechlicher Experten.

Nicht das Einzelschicksal Gustl Mollaths will Beckmann beleuchten. Auch nicht die Verschwörung von Geld und Politik, die dazu geführt haben könnte, sondern die Praxis des Maßregelvollzugs. Wie kann es passieren, dass Gesunde als verrückt und gefährlich für sich und ihre Mitmenschen eingestuft und in eine Psychiatrie eingewiesen werden?

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Mollath selbst zeigt sich im Gespräch noch immer entsetzt darüber, „dass man mich über die perfideste Klinge hat springen lassen, die in Deutschland möglich ist.“ Perfide, weil er trotz Freispruchs für sieben Jahre seiner Freiheit beraubt wurde. Und möglich, weil die Wege zu dieser Gerichtsentscheidung noch immer praktiziert und akzeptiert werden. Die Psychiaterin Dr. Hanna Ziegert spricht im Laufe der Diskussion sehr offen über die gängigen Praktiken.

Gutachten allein auf Aktenkenntnis der Normalfall

So sei es Gang und Gäbe, dass Gutachten allein aufgrund der Aktenkenntnis getroffen würden. Ein längeres Gespräch mit dem Betroffenen sei im Prinzip nicht nötig. So war es auch Gustl Mollath ergangen, der Gespräche mit Gutachtern immer wieder abgelehnt hatte und dennoch auf Basis einer solchen Einschätzung in dem Maßregelvollzug eingewiesen wurde. Oft schrieben die Gutachter einfach die Erkenntnisse ihrer Vorgänger ab, so Ziegert: „Das ist Praxis, das weiß die Öffentlichkeit nicht.“

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In welche Richtung das entscheidende Gutachten gehen soll, liege im Grunde aber im Entscheidungsbereich der Staatsanwaltschaft und des Richters, erklärt Ziegert. So sei der Kreis der psychiatrischen Gutachter in den meisten Gegenden genauso überschaubar wie deren Kundenstamm. Meist sei ein Gutachter auf Aufträge des Gerichts wirtschaftlich angewiesen. So könne es nicht verwundern, wenn die Diagnosen den Zielen der Auftraggeber in die Hände spielen würden.

Kurz gesagt: Der Gutachter bewertet den Angeklagten nach den Wünschen der Staatsanwaltschaft. So soll es auch bei Mollath gewesen sein. Dr. Hanna Ziegert selbst sieht diese Vorgehensweise mehr als skeptisch: „Ich weiß nicht, ob ich mich selbst jemals würde begutachten lassen.“ Bei so viel Ehrlichkeit bleiben auch den beiden anderen Diskussionsteilnehmern, dem Journalisten Uwe Ritze und Mollaths Anwalt Dr. Gerhard Strate, die Worte im Halse stecken.

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Gustl Mollath berichtet eher wiederwillig, aber auf Beckmanns Drängen dann doch von seinen Erlebnissen in der geschlossenen Anstalt. Medikamente seien die beliebteste Therapie gewesen. Den so behandelten Insassen sei nicht nur des Sexualtrieb abhanden gekommen, sondern auch die Gewalt über ihren Speichelfluss. Nachts habe es mehrere Kontrollen gegeben, bei denen die Aufseher mit Taschenlampen in die Zimmer der Patienten geleuchtet hätten. Habe man nicht mit dem Gesicht zur Tür gelegen, so Mollath, hätte dies eine Strafe nach sich gezogen.

Gustl Mollath attackiert bei "Beckmann" die bayrische Justizministerin scharf 

Was wie das Drehbuch für einen Film klingt scheint in Deutschland Wirklichkeit zu sein. Unbekannte Wirklichkeit. Aber vielleicht auch deshalb, weil die Menschen gerne wegsehen, wenn es um vermeintlich fehlgeleitete Individuen geht. Forensische Kliniken werden von Anwohnern ebenso vehement bekämpft wie der Löwenzahn im englischen Rasen. Gleichzeitig schwebt wohl nicht erst seit dem Fall Mollath bei jedem die Angst mit, selber Opfer eines falschen Gutachtens zu werden und unschuldig im „Irrenhaus“ zu landen.

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Was während der Diskussion bei Beckmann ebenfalls deutlich wurde: Die Meinung darüber, ob diese Praktiken verwerflich oder angebracht sind, ändert sich mit der persönlichen Sichtweise. „Ich glaube, ich mache einen relativ vernünftigen Eindruck“, sagt Mollath, als die Runde auf den noch immer bestehenden Zweifel an seiner psychischen Gesundheit zu sprechen kommt. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Eindruck trügt. Wie es in der Gedankenwelt eines Menschen aussieht, lässt sich nicht immer eindeutig ausmachen.

Auch ein studierter, erfahrener Experte ist dazu nicht immer in der Lage. Was nun, schwingt wohl eine weitere Angst des Durchschnittsbürgers mit, wenn sich der nette Nachbar als Kinderschänder, als Sadist, als Terrorist herausstellt? Wäre es da nicht besser gewesen, jemand hätte das vorher erkannt und ihn weggesperrt, unschädlich gemacht? Sollte man nicht lieber einen Unschuldigen zu viel in Psychiatriezimmern versauern lassen, als den Tod eines Kindes oder die Explosion einer U-Bahn in Kauf zu nehmen?

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Nicht nur die deutsche Justiz, auch die öffentliche Meinung und Moral schwankt zwischen notwendigem Zwang und dem Respekt vor der persönlichen Freiheit. Der Fall Gustl Mollath, das wird in diesen 75 Minuten klar, ist nicht darum so sensationell, weil ein Einzelner Opfer eines Justizfehlers wurde, sondern vor allem deshalb, weil sich das deutsche Rechtssystem plötzlich als Irrenhaus entpuppt hat.

Zum Ende des Gesprächs äußert sich Mollath zum Umgang der Politik mit seiner Person. Dabei attackiert er Bayerns Justizministerin Beate Merk scharf und wirft ihr Opportunismus vor: „Da ist Hopfen und Malz verloren“ – Merk hatte immer wieder betont, dass alles im Fall Mollath rechtens sei. "Die Statements, die sie vor über einem Jahr abgegeben hat über meine Person und meinen Fall, sind über 180 Grad konträr zu dem, was sie heute zum Besten gibt", fügte er hinzu.