Essen. Unter großem internationalen Medienecho hat der Prozess gegen den norwegischen Attentäter Anders Breivik begonnen. Die Gefahr, dass der Rechtsextremist diesen als Propagandabühne nutzt, ist groß. Doch was kann man dagegen tun? Und gibt es überhaupt eine gerechte Strafe für den Mann, der 77 Menschen kaltblütig erschossen hat? Diese Fragen diskutierte Beckmann am Donnerstag.
Anders Behring Breivik betritt den Gerichtssaal. An der Anklagebank bleibt er kurz stehen, schaut der versammelten Presse fest in die Augen und reckt die Faust zum rechtsextremen Gruß. Das Bild geht um die Welt. Es wirkt, als könne sich Breivik vor Gericht alles erlauben, als hätte man es mit einem politischen Prozess zu tun, als würde der Attentäter stark und unbeirrt für seine Sicht der Dinge kämpfen.
„Dieses Bild wird den Prozess überdauern“, davon ist Gisela Friedrichsen überzeugt. Die Gerichtsreporterin des Spiegel hat das Verfahren in Oslo verfolgt. Sie ist einer der Gäste, die an diesem Donnerstagabend bei Reinhold Beckmann den Prozess und den Umgang mit dem Massenmörder Breivik diskutieren. „Gibt es eine gerechte Strafe für einen Massenmörder?“ - eine rhetorische Frage, die aber auch nicht beantwortet werden sollte.
„Breiviks Ziel war der Prozess“
Der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen ist überzeugt: „Breiviks Ziel war der Prozess“. Maximale mediale Aufmerksamkeit wollte der Attentäter erreichen – und genau das ist ihm geglückt. Seine absurden, rechtsextremen Thesen haben Beachtung gefunden. Psychiater Frank Urbaniok hat bereits Briefe erhalten, von Menschen, die sich durch mit dem Attentäter identifizieren, überlegen, es ihm gleichzutun.
Wie schwierig die Berichterstattung über einen solchen Prozess ist, darüber ist in den letzten Tagen viel nachgedacht und geschrieben worden. Darf man Breivik eine derart große Bühne bieten? Was wiegt schwerer; das Informationsbedürfnis der Norweger oder die Gefahr, dem Attentäter mit den Berichten in die Hände zu spielen? Wie bewältigt die norwegische Gesellschaft dieses nationale Trauma? Und kann man etwas aus diesem Fall lernen?
„Es sollte keine Fernsehübertragung aus Gerichtssälen geben“
Gisela Mayer hat beim Amoklauf in Winnenden 2009 ihre Tochter verloren. Seither engagiert sie sich in einem Aktionsbündnis, setzt sich zum Beispiel für schärfere Waffengesetze ein. Sie weiß, wie extrem die Medienaufmerksamkeit nach so einer Katastrophe sein kann. Im Osloer Prozess sieht sie Parallelen zu ihren Erlebnissen nach dem Amoklauf in Winnenden. Es gehe zu stark um die Täter, findet Mayer. Breivik mit gereckter Faust sehen zu müssen, sei für die Angehörigen der Opfer nur schwer auszuhalten.
„Aus diesem Grund sollte es in Deutschland auch in Zukunft keine Fernseh-Übertragung aus dem Gerichtssaal geben“ findet Heinrich Gehrke. Der pensionierte Richter hat schon viele schwere Fälle beurteilen müssen. Wie man mit dem Bösen, Unbegreiflichen umgehen soll, ob es in Breiviks Mimik Zeichen von menschlicher Regung gab – all diese Fragen hält Gerhke für müßig. Die Praxis im Gerichtssaal lehrt, so beschreibt es auch Gutachter Urbaniok, nüchterne Fragen wie die Schuldfähigkeit und das Verhindern zukünftiger Straftaten in den Vordergrund zu stellen. Die immer wieder auf Plakaten gestellte Frage „Warum?“ sei ohnehin nicht befriedigend zu beantworten.
Ist Breivik schizophren und damit „unschuldig“?
Aus diesem Grund sei auch nicht entscheidend, ob Breivik künftig im Gefängnis oder in der Psychiatrie untergebracht werde. Die mutmaßliche Psyche des Attentäters wird dann aber doch länger diskutiert. Alle sind sich einig, dass der 33-jährige Norweger vor allem Aufmerksamkeit haben wollte, dass seine rechtsextreme Ideologie zu einem gewissen Grad willkürlich als Motiv gewählt wurde und eines bewirken soll: Breivik möchte beachtet und ernst genommen werden.
Mit dem Prozess hat der Attentäter genau die Situation geschaffen, um die es ihm ging. Das zumindest glaubt der Norweger Hansen. Dennoch, findet er, müsse dieser Prozess genauso transparent und offen stattfinden, wie das im Moment der Fall ist, vielleicht sogar noch offener. Die Norweger, so sehr sie der „Circus Breivik“ auch nervt, könnten auf diese Weise besser verarbeiten, was geschehen sei. Allerdings, räumt Hansen ein, sei das norwegische Justizsystem mit seinem Fokus auf Resozialisierung durch den Attentäter in Frage gestellt worden. Auch nach 21 Jahren Gefängnis - der Höchststrafe in Norwegen - soll Breivik weiter „verwahrt“ werden.
„Gibt es das Böse?“ fragt Beckmann in die Runde
„Gibt es das Böse?“ fragt Beckmann philosophisch. Psychiater Urbaniok antwortet pragmatisch: „Es gibt Menschen, die sehr gefährlich sind“. Trotz Therapie gebe es immer einen gewissen Prozentsatz an Straftätern, der von der Gesellschaft ferngehalten werden müsse, für immer. Breivik, der in den Augen des Gutachters an Schizophrenie leidet, aber aufgrund seines planvollen Handelns zumindest teilweise schuldfähig ist, zählt in jedem Fall dazu.
Schriftsteller Hansen ist überzeugt, dass Breivik nie wieder frei kommen wird. Die Taten des Angeklagten seien durch eine „böse Ideologie“ motiviert und die politische Dimension müsse durchleuchtet werden. Nur so könne die norwegische Gesellschaft aus den Ereignissen von 22/7 (so der an 9/11 angelehnte Sprachcode) lernen.
In Norwegen rücken Migranten und Einheimische näher zusammen
Zwei Lehren hat Norwegen nach Meinung des Schriftstellers schon aus der Tragödie gezogen: „Das Klima zwischen Migranten und Norwegern ist besser geworden.“ Anders Breivik habe gezeigt, dass man niemandem ansehen könne, ob er Böses oder Gutes im Schilde führe, ganz gleichgültig, „welche Hautfarbe jemand hat“. Außerdem sei das Land entschlossen, seine demokratischen Werte gegen diesen Angriff zu verteidigen. Selbst die Fortschrittspartei habe ihre Positionen überdacht. „Die Erkenntnis, das aus Worten Taten werden können“ wiege selbst in der rechtspopulistischen Partei schwer, so Hansen weiter.
Dennoch, die mediale Inszenierung, die dem Attentäter zum Prozessauftakt gelungen ist, missfällt auch Hansen, der eigentlich für Offenheit und größtmögliche Transparenz argumentiert. Die Macht der Bilder beunruhigt alle in der Runde. Die gereckte Faust wird „das Label dieses Prozesses“, vermutet Spiegel-Reporterin Friedrichsen. Das ärgert sie, denn das Foto sei nicht repräsentativ für das, was sich bislang vor Gericht abgespielt hat.
Im sonstigen Prozess sei Breivik von der Staatsanwältin auseinander genommen worden, habe sich in Widersprüche verstrickt und insgesamt ein schwaches Bild abgegeben.