Essen. Neu im Kino: Filmregisseur Sam Mendes erzählt in „Empire of Light“ viele Geschichten. Eine besonders schöne handelt vom Zauber des Kinos.

Im „Empire Cinema“ an der britischen Küste ist die Zeit irgendwann stehengeblieben. Ein Foyer mit edlen holzvertäfelten Wänden, ein Teppich schluckt die Schritte. Für Serviceleiterin Hilary bedeutet das alte Filmtheater die ganze Welt. Sie leidet an einer bipolaren Störung und hält ihre Erkrankung mit Lithium und der Hilfe ihrer Arbeit in Schach. Als eines Tages der junge Stephen als Kartenabreißer beginnt, entwickelt sich eine zarte Liebe. Aber Hilary kann dem Druck auf Dauer nicht standhalten.

Verblasste Eleganz

Mit „Empire of Light“ präsentiert der britische Filmemacher Sam Mendes („American Beauty“, „Skyfall“, „1917“) einmal mehr eine zutiefst menschliche Geschichte, die diesmal jedoch gleichzeitig von einer großen persönlichen Leidenschaft erzählt. Nach Kenneth Branagh („Belfast“) und Steven Spielberg („Die Fabelmans“) bringt jetzt auch er eine Hommage an das Kino auf die Leinwand.

Margate im Südosten Englands, Anfang der 80er Jahre. Malerisch fließen die Wellen an den Strand, man kann die kühle Seeluft beinahe riechen. Einen Steinwurf entfernt liegt das alte Kino, dessen verblasste Eleganz Kameramann Roger Dea­kins in betörende, detaillierte Bilder bannt, vom Geländer, das sich emporwindet, über elegante Lampen bis zum roten Vorhang, der beiseite gleitet, sobald der Film beginnt. Wenn die Kamera aus dem Foyer heraus auf die helle Straße blickt, erscheinen die Menschen unwirklich, wie Scherenschnitte.

Hilary (Olivia Colman) und Stephen (Micheal Ward) freunden sich an.
Hilary (Olivia Colman) und Stephen (Micheal Ward) freunden sich an. © Disney | Disney

Im „Empire“ wird das Publikum noch begrüßt. Der Kartenabreißer trägt Krawatte. Und im Verborgenen hantiert Vorführer Norman (Toby Jones) mit Filmrollen, die groß sind wie Melonen. Es existiert sogar ein Tanzsaal mit einem Klavier unterm Dach. Heute flattern dort die Tauben. Ein verwunschener Ort. Eine andere Welt.

Für Hilary ist das Kino ein Zuhause

Für Hilary, eine Frau um die 50, ist das Kino ein Zuhause, im Gegensatz zu ihrer finsteren Wohnung, deren Vorhänge sie sorgfältig verschließt. Hilary lebt allein, sie isst allein, schläft allein, trinkt ihren Rotwein allein in einer Bar. Und beim Tanztee bleibt sie als Einzige übrig. Im Kino spielt sie eine Rolle, ist Platzanweiserin, Süßigkeitenverkäuferin und Empfangsdame in Personalunion, wobei Mädchen für alles zynisch klingt. Regelmäßig bestellt sie Donald Ellis (ungewohnt, aber wunderbar widerlich: Colin Firth), Direktor des Empire, zum Sex in sein Büro. Hilary will das nicht, findet aber nicht den Mut, sich gegen den übergriffigen Kerl durchzusetzen.

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Als Stephen in ihr Leben tritt, wird er zum wichtigen Anker für die übersensible Frau. Die beiden nähern sich an, er gewinnt ihr Vertrauen. Doch da ist nicht nur der große Altersunterschied. Stephen hat eigene Probleme. Immer wieder wird der junge Schwarze Opfer fremdenfeindlicher Kommentare und Übergriffe. Eigentlich möchte er Architektur studieren, doch die Universitäten nehmen ihn nicht. Aber wie Hilary ist er ein Kämpfer.

Blick in menschliche Abgründe

Die vielfach ausgezeichnete Olivia Colman (Oscar für „The Favorite – Intrigen und Irrsinn“) ist als Hilary so etwas wie eine Urgewalt. Sie ist ganz leise, um im nächsten Moment komplett auszurasten. Hilary kann strahlen wie die Sonne, sie kann lieb sein und gleichzeitig furchterregend, nie weiß man, was passiert. Ein Blick in menschliche Abgründe, ein eindrucksvoller schauspielerischer Akt der Balance. In einer Schlüsselszene am Strand lehrt sie selbst Stephen das Fürchten. Kurzum: Olivia Colman beweist einmal mehr, dass sie in dem, was sie macht, großartig ist.

Kongenial der junge Micheal Ward, ein bisher recht unbekanntes Gesicht. Er verkörpert den ehrgeizigen Stephen glaubhaft, der die Gemeinschaft des Kinopersonals eine Zeit lang ebenso braucht: Vertrauen gegen Angst, Solidarität gegen Ausgrenzung. Als er sich schließlich von Hilary zurückzieht, verschwindet sie von der Bildfläche. Bei einer Gala-Vorstellung im „Empire“ taucht sie plötzlich wieder auf.

Mendes hat eine ganze Reihe Geschichten aus dem Leben in sein „Empire of Light“ gepackt, die etwa vom Geist der frühen Thatcher-Jahre, von Rassismus, seelischer Not und Liebe erzählen. Berührend sind sie alle. Am besten jedoch funkt die über die Magie des Kinos. In einer wunderbaren Szene sitzt Hilary in den Zuschauerreihen. Das erste Mal in ihrem Leben. Selten hat man Augen schöner strahlen gesehen. Noch ein Beweis für den Zauber des Lichts.