Essen. In dieser Woche neu im Kino: Kenneth Branagh lässt in „Belfast“ seine Kindheit wieder auferstehen. Der Film ist mehrfacher Oscar-Kandidat.

„Für alle, die blieben. Für alle, die gingen. Und für alle, die verloren gingen.“ Mit diesen drei Sätzen beendet Kenneth Branagh seinen filmischen Blick zurück auf selbst erlebte Kindheitstage in Nordirlands Hauptstadt. Belfast ist am Ende der 60er-Jahre eine typische nordbritische Arbeiterstadt. Die einst so gewinnträchtigen Industrien um Kohle, Holz und Stahl sinken dahin, dafür kocht ein gefährlicher sozialer Konflikt hoch. Iren und Arbeiter sind härter davon getroffen als Angestellte und Nachkommen englischer oder schottischer Einwanderer. Der Zündstoff für das explosive Konfliktgemisch liegt in den Konfessionen: Protestanten und Katholiken gehen unvermittelt in verbissener Härte aufein­ander los.

Belfast aus Kindersicht: Der neunjährige Buddy wird gespielt von Jude Hill

Solche Entwicklungen kümmern den neunjährigen Buddy (prima Bengel: Jude Hill) bislang wenig. Ihn begeistert es, dass Astronauten zum Mond fliegen und dass es bei den Großeltern Granny und Pop (fabelhaft: Judi Dench und Ciarán Hinds) so gemütlich ist. Er möchte gern der Beste in der Klasse sein, weil er dann neben dem Mädchen sitzen darf, das er gut findet. Er bewundert seine Ma (unwiderstehlich: Caitriona Balfe), auch wenn sie oft streng ist. Er kann noch nicht verstehen, dass Pa (Jamie Dornan aus „50 Shades of Grey“, hier zum Helden und Hauptdarsteller gereift) wegen der Arbeit oft wochenlang nach London muss und die Familie auch nach dort ziehen soll. Und dann wird eines Tages in der Straße ein Auto angezündet und geht in die Luft.

Es hat schon manch harschen Vorwurf gegen diesen Film gegeben. Es sei alles zu harmlos, zu beschönigend, zu verniedlichend dargestellt. Was stimmt, wenn man diesen Film aus einer erwachsenen Perspektive sieht, die bestimmte Dinge für wichtig hält und andere dafür ausklammert. Als ob das bei Kindern nicht ganz genauso wäre. Der Koffer mit den Matchbox-Autos ist 1969 ein echter Schatz, mindestens so wichtig wie der Aston Martin von James Bond oder ein Tor von George Best oder die Tasse heiße Milch bei den Großeltern, wenn man regennass vor der Tür steht.

Der Film ist nostalgisch, bisweilen wehmütig – und sehr enthusiastisch

Kenneth Branagh, seit 30 Jahren Shakespeare-Interpret und Hollywood-Allzweckwaffe vor wie hinter der Kamera, legt mit „Belfast“ einen bedingungslos persönlichen, also auch nostalgischen, bisweilen wehmütigen, aber auch unbedingt enthusiastischen Film vor. Und er beschönigt gar nichts. Er trägt nur weniger dick auf. Wenn vor der Straße, in der Buddy lebt, plötzlich Barrikaden stehen und Nachbarn mit der Faust aufeinander losgehen, dann sind das starke Bildeindrücke einer Ausnahmesituation. Es erschreckt, wenn der Supermarkt im Viertel brutal geplündert wird, aber man lacht über Buddy, als der im Getümmel ein Paket Waschmittel abgreift, weil das biologisch abbaubar ist. Branagh zeigt ein sicheres Auge für die Balance zwischen den schönen und den bitteren Dingen, und wie bei John Ford verschweißt sich alles ganz ohne Predigt zu dem, was man Leben nennt.