Essen. Mit dem Filmdrama über eine Dirigentin läuft jetzt ein Oscar-Favorit an. Gute Chancen für Cate Blanchett, nominiert als beste Hauptdarstellerin.

Lydia Tár hat alles erreicht. Als Komponistin und Dirigentin der Berliner Philharmoniker spielt sie in der Oberliga der klassischen Musik; eine Koryphäe ihres Fachs. Sie hat eine glückliche Beziehung und ein süßes Adoptivkind. Doch dann gerät ihre Welt aus den Fugen. 16 Jahre war der Regisseur Todd Field („The Creed of Violence“) von der Bildfläche verschwunden, jetzt meldet er sich mit der fiktiven Künstlerinnenbiografie „Tár“ zurück. Im Mittelpunkt steht eine großartige Cate Blanchett, die einmal mehr beweist, dass man mit wenigen, wohl dosierten Mitteln eine Welt erfinden kann.

Die zweifache Oscar-Preisträgerin verkörpert die Star-Dirigentin auf derart authentische Weise, dass fast in Vergessenheit gerät, dass es sich um keine reale Persönlichkeit handelt. Ein Einsatz, der ihr eine Nominierung für den Oscar als beste Hauptdarstellerin einbrachte.

Die Gender-Debatte ist Lydia Tár egal

So sieht man am Anfang, wie sie sich vor einer Live-Talkshow erst mit Hilfe von Tabletten beruhigen muss – um Minuten später hochkompetent über Musik zu sprechen. Die immer noch von Männern dominierte Klassik-Szene bereite ihr keine Probleme, betont sie. Die Gender-Debatte ist ihr egal. Maestro bleibt Maestro, auch wenn es sich um eine Maestra handelt. „Wir sagen ja auch nicht Astronetten.“

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Der Film bleibt bei seiner Hauptdarstellerin, sie ist das Zentrum, um das sich alles dreht: Tár beim Interview, Tár beim Essen mit dem Kollegen, mit ihrem Orchester, beim Unterrichten an der Hochschule. Und mit ihrer Lebenspartnerin, der Konzertmeisterin Sharon (kongenial: Nina Hoss).

Auf dem Schulhof ihrer Adoptivtochter kann man dann etwas aufblitzen sehen, was sie neben Ehrgeiz, Enthusiasmus und eiserner Selbstdisziplin ausmacht: eine gebieterische Kälte, mit der sie als „Petras Vater“ ein Mädchen zurecht stutzt: „Der liebe Gott sieht alles!“ In einer anderen Szene schlottern einem ihrer Studenten vor Angst die Knie.

Cate Blanchett stattet ihre Figur mit herben Zügen aus

Denn die zierliche Lydia Tár ist keine Frau, die sich in einer Männerwelt behaupten muss. Die Lady in ihren Designeranzügen ist längst Teil des Patriarchats, ein Machtmensch unter vielen. Blanchett stattet ihre Figur mit herben Zügen aus. Sie ist egozentrisch, provokant, manipulativ, ja übergriffig. Sie nutzt Abhängigkeiten aus. Und sie wird dabei schuldig, ein Opfer ihrer Obsessionen.

Cate Blanchett überzeugt als Dirigentin Lydia Tár auf ganzer Linie.
Cate Blanchett überzeugt als Dirigentin Lydia Tár auf ganzer Linie. © Universal | Universal

Als der Film sie vorstellt, befindet sich die Künstlerin auf dem Gipfel ihrer Karriere. Nachdem ihr Orchester alle Mahler-Symphonien bis auf die Fünfte live eingespielt hat, ist nun diese an der Reihe. Doch die Aufnahmen werden von einer Reihe schicksalhafter Ereignisse begleitet. Eine Musikerin, die Tár bevorzugt hat und dann fallen ließ, begeht Selbstmord. Die Dirigentin verliebt sich in die junge hochbegabte Cellistin Olga (Sophie Kauer). Und dann ist da dieses kompromittierende Video mit den Hass-Kommentaren im Netz. Lydia verliert die Bodenhaftung.

Themen wie #MeToo und Cancel Culture

„Tár“ behandelt Themen wie #MeToo und Cancel Culture, aber er kommt nie belehrend daher. Todd Field setzt auf Andeutungen, auf ruhige, starke Bilder, Horror-Anleihen komplettieren das Psychogramm einer getriebenen Seele. Nachts liegt die große Musikerin wach, weil Geräusche jeder Art sie um den Schlaf bringen. Was Fiktion ist, bleibt bewusst offen. Sind die Schreie, die sie beim Joggen im nächtlichen Park erschrecken, Realität? Begegnet ihr der unheimliche Hund in Wirklichkeit? Was hat es mit der seltsamen Nachbarin auf sich?

Der Film ist keine leichte Kost. Es ist kompliziert, manchen Handlungssträngen zu folgen, vieles wird nur angeschnitten, aber nicht auserzählt. Gegen Ende wird es zusehends diffuser, passend zum Zustand der Protagonistin. So bleibt nach drei satten Stunden vor allem die Leistung Cate Blanchetts haften, die eine innere Tour-de-Force zwischen Genie und Wahnsinn erlebbar macht; einen Menschen, der kämpft, nicht gut, nicht böse. Und das ist eine Kunst.


>>> Oscar-Anwärter „Tár“ <<<

„Tár“ ist für sechs Oscars nominiert, neben der Kategorie beste Hauptdarstellerin auch für den besten Film, die Regie, die Kamera, den Schnitt und das Originaldrehbuch.

Cate Blanchett erhielt für „Blue Jasmine“ 2014 einen Oscar als beste Hauptdarstellerin. Für ihre Rolle in „Aviator“ wurde sie 2005 als beste Nebendarstellerin geehrt.

Die „Tár“-Musik stammt von der Oscar-prämierten Komponistin Hildur Guðnadóttir („Joker“).