Essen. Elfriede Jelineks Theaterstück „Lärm. Blindes Sehen, Blinde sehen“ feierte am Grillo-Theater Premiere. Eine deprimierende Zustandsbeschreibung.
„Gott hat nichts mehr zu sagen.“ Statt seiner sprechen Alexa, Siri & Co. stellvertretend für all die digitalen Medien, unter deren Kontrolle wir uns bereitwillig begeben haben. In ihrem Stück „Lärm. Blindes Sehen, Blinde sehen“, das Hermann Schmidt-Rahmer am Grillo-Theater in Essen eingerichtet hat, gelangt Elfriede Jelinek zu einer deprimierenden Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Ausgangspunkt des aus der Wut der Verzweiflung und des Genervt-Seins geborenen Textkonvoluts voller schräger Assoziationen und Gedankenvolten war die Erfahrung der medialen Überflutung, die mit dem Beginn der Corona-Pandemie einsetzte.
Fake-News und anderer Lärm
Die Kakophonie der Expertenmeinungen und Gegen-Expertisen, der Informationen und Fake-News, der Gerüchte und Schein-Gewissheiten, kurz: dieser alles überlagernde „Lärm“ vernebelte für Elfriede Jelinek jedes greifbare, konsensfähige Bild der Gegenwart. Jeder glaubt, was er gesehen, gehört hat und was er glauben will. „Ich weiß selbst nicht, was ich sage, aber dafür verstehe ich alles“ heißt es und „Die Menschen betreiben gemeinsam die Erosion unserer Wissensbasis“. Dann kommt auch Martin Heidegger ins Spiel: „Die Wahrheit besteht in ihrer Erscheinung.“ Das ursächliche Sein interessiert kaum.
Bevor auf der Bühne eine der berüchtigten Ischgler Skihütte „Kitzloch“ nachgebaute Party-Lodge auffährt, füllt schreiende Stille den Saal. Im Flüsterton beschwört Silvia Weiskopf (wie alle Ensemblemitglieder ohne Rollenzuordnung) das Publikum, die Handys auszuschalten. „Ich will keine Strahlen hier im Raum.“ Jedenfalls keine weiteren.
„Bestrahlte“ Menschen verkünden unerschütterliche Wahrheiten
Mit den eingeblendeten Filmen schwillt der Lärm dann an; „Bestrahlte“ Menschen, die ihre unerschütterlichen Wahrheiten über Ursprung, Wesen und Wirkung von Corona vor allem aus digitalen und sogenannten sozialen Medien bezogen haben, positionieren, radikalisieren sich, und die aus demonstrativ aufgesetzten Schutzmasken wirken plötzlich wie ein Ersatz für den Hitlergruß.
Damit ist die Inszenierung ganz nah bei einem Dauerthema Jelineks, dem Gespenst einer erstarkenden rechten Szene. „Frieden jetzt“ skandieren irgendwann Silvia Weiskopf, Stefan Diekmann, Alexey Ekimov, Moritz Tostmann, Ines Krug und Jan Pröhl (nur die beiden Letzteren sind auch als Zauberin Kirke und Odysseus auszumachen), beziehen Stellung pro Russland und gegen die Ukraine. Und drohen den „Mächtigen“, den im digitalen Nebel Unsichtbaren: „Wir kommen über Euch, eine ganze Herde von schwarzer Farbe.“
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Der Inszenierungsduktus ist stark – vielleicht etwas zu stark – aufs Boulevardeske ausgerichtet (die Darsteller stampfen in klobigen Skischuhen, oft sogar mit Skiern umher). Umso bestechender ist Schmidt-Rahmers Einbindung des anderen großen Jelinek-Themas. In Riesenprojektionen sieht man die Bilder des österreichischen Fotografen Lois Hechenblaikner, der die Sauf- und Partygelage in Ischgl fotografiert hat.
Ein Gedankenabstecher in die Antike
Von den Männern, die sich da auf unbeschreibliche Weise schweinisch verhalten, ist schnell die Brücke geschlagen zu Jelineks Gedankenabstecher in die Antike, wo Zauberin Kirke die testosterongesteuerten, auch nur auf das Eine bedachten Männer des Odysseus tatsächlich in Schweine verwandelt.
Am Ende des umjubelten Abends steht ein skeptisches, mit humoristischer Schärfe präsentiertes Fazit: Der Spalt in der Gesellschaft wird nicht kleiner.