Essen. Susanne Schröter und Peter R. Neumann beschreiben in ihren neuen Büchern die Defizite und Gefahren der marktwirtschaftlichen Demokratien.
Hier die Erfahrung eines ungeahnten Schulterschlusses zwischen Europa und den USA im Angesicht des Ukraine-Krieges – dort die Erfahrung, dass sich der Rest der Welt dabei nicht so einfach einreihen will. China, Indien, Afrika, der Nahe Osten und sogar das Nato-Mitglied Türkei halten sich bei Sanktionen gegen den russischen Imperialismus-Versuch in der Ukraine sichtlich zurück. Wie kann das sein? Hat das einstige Erfolgsmodell aus wirtschaftlichem Wohlstand und Demokratie, aus Rechtsstaat und liberaler, aufgeklärter Politik plus Marktwirtschaft seine Anziehungskraft verloren? Hat der Westen gar schon seine Rolle als globale Führungsmacht eingebüßt?
Der britische Historiker Niall Ferguson hatte bereits vor über einem Jahrzehnt orakelt, es gehe gerade vielleicht eine 500 Jahre währende Erfolgsgeschichte zu Ende. Nicht zuletzt das Debakel des Westens in Afghanistan, das 2021 nach gut zwei Jahrzehnten in dem überhasteten, planlosen, entwürdigende Bilder produzierenden Truppenabzug seinen beschämenden Abschluss fand, befeuert das Nachdenken über Wohl und Wehe, Werte und Wesen des Westens. Anfang September wird sich das neue Kursbuch diesem Thema widmen, gleichzeitig machen sich die Frankfurter Ethnologie-Professorin und Islam-Expertin Susanne Schröter sowie der Londoner Politikwissenschaftler und Terrorismus-Kenner Peter R. Neumann Gedanken über das vielfältige Scheitern des Westens.
Nicht genug Geld und Militär
Neumann zieht dabei die historische Perspektive ein und sieht den Beginn der Krise im Sieg des Westens am Ende des Kalten Krieges. Er habe den Glauben erzeugt, der Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft werde sich automatisch weltweit fortsetzen. Die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 seien in dieser Hinsicht ein Weckruf gewesen. Dem dann beginnenden „Krieg gegen den Terror“ habe allerdings ein klares Ziel gefehlt – so seien die USA ohne Strategie und mit zu kleinem Truppenkontingent in Afghanistan einmarschiert, während in Europa darauf gedrängt wurde, den Krieg gegen Terror und Taliban mit der Etablierung von Demokratie und Menschenrechten in Afghanistan zu rechtfertigen – wiederum ohne genügend Geld und genügend Militär dafür bereitzustellen. Susanne Schröter zeigt zudem sehr präzise, wie schlecht die historisch-kulturellen Voraussetzungen für einen demokratisch-liberale Staat in Afghanistan sind – schon weil allein Staatlichkeit in der Tradition des Landes weder ein Wert ist noch Ansehen genießt. Der Westen sei zudem in Mali dabei, diesen Fehler der Selbstüberschätzung zu wiederholen.
Beide Fachleute sehen zudem, dass die Banken- und Staatskrise von 2008 nicht nur Grenzen und Gefahren des Finanzkapitalismus aufgezeigt hat, sondern eben auch das Wirtschaftsmodell des Westens grundsätzlich in Misskredit gebracht hat. Auf dem politischen Sektor könnte der Sturm auf das Weiße Haus am 6. Januar 2021 ähnliche Folgen haben – das System der parlamentarischen Demokratie hat nicht nur einen Ansehensverlust erlitten, es steckt angesichts der überall erstarkten Populisten selbst in der Krise. Aus Susanne Schröters Sicht trägt auch eine intellektuelle Selbstzerfleischung im Namen von Postkolonialismus, Antirassismus und Identitätspolitik dazu bei, weil sie die Gesellschaften des Westens immer tiefer spaltet.
So scheint das autoritäre Modell scheint weltweit auf dem Vormarsch zu sein – nicht zuletzt mit dem schier unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zur Weltmacht: „Autoritäre Moderne“ nennt Neumann dieses Modell.
Langfristig denken und handeln
Die noch größere Gefahr sieht er allerdings darin, dass „das Wirtschafts und Politik-Modell“ der liberalen Moderne „ganz fundamental“ den „Notwendigkeiten widerspreche, die sich aus dem Klima-Notstand ergeben.“ Damit meint er nicht nur die auf Wachstum und Rohstoff-Vernichtung beruhende Wirtschaftsweise, sondern auch die Dimension der Politik: Mit ihre Legislatur-Zyklen von vier bis fünf Jahren sei die westliche Politik zu wenig in der Lage, langfristig zu denken, zu planen und zu handeln.
Dieses Manko wird in beiden Darstellungen offensichtlich: Es mangelt dem Westen nicht an Zielen, sondern an Strategien, sie zu erreichen. Schon das Nachdenken darüber, über die Zukunft, ihre Gestaltung und die Wege dahin, ist in der Politik ersetzt worden durch das bloße, immer nur kurzfristig erfolgreiche Reagieren auf Krisen. Die Ära Merkel war in dieser Hinsicht symptomatisch.
Mehr Realismus und Pragmatismus
Schröter wie Neumann empfehlen beide etwas pauschal mehr Realismus in der Politik, mehr Einsicht in die eigenen Grenzen und mehr Pragmatismus bei Versuchen, das Demokratie-Modell im globalen Süden umzusetzen. Und in der Tat könnte es ja sein, dass es nicht aus Faulheit, Kurzsichtigkeit oder Dummheit an Strategien mangelt – sondern weil sie der Komplexität der Probleme gar nicht mehr gerecht werden können.
Die Bücher – und die Lesart-Sendung im Grillo
Susanne Schröter: Global gescheitert. Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass. Herder Verlag, 240 S., 20 € (ab 29.8.).
Peter R. Neumann: Die neue Weltunordnung. Wie der Westen sich selbst zerstört. Rowohlt Berlin, 333 S., 24 € (ab 13.9.).
Schröter und Neumann sind Gäste der „Lesart“-Aufzeichnung des Deutschlandfunks Kultur am 30. August, ab 20 Uhr im Essener Grillo-Theater. Eintritt: 8 €, Karten: 0201/8122-200 sowie in der Essener Buchhandlung Proust.