Mülheim. Zwei Generationen von Dramatikerinnen bereicherten jetzt den „Stücke“-Reigen in Mülheim: Helgard Haug und die bewährte Elfriede Jelinek.

Elfriede Jelinek rief, und alle kamen. In der Stadthalle war vom viel beklagten Publikumsschwund gar nichts zu spüren. Im Wettbewerb um den Mülheimer Dramatik-Preis präsentierte das Hamburger Schauspielhaus seine Uraufführungs-Inszenierung von Jelineks neuem Corona-Stück „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen“.

Für die österreichische Literatur-Nobelpreisträgerin ist es die inzwischen 21. Einladung zu den Theatertagen; vier Mal hat sie den Preis schon gewonnen. Die erfahrene Regisseurin Karin Beier formt aus dem über 80 Seiten langen Text voller schräger Assoziationen und virtuoser Gedanken-Volten, dabei ohne jegliche Rollenzuordnung oder Regieanweisung, ein spektakuläres dreistündiges Bühnenerlebnis.

Rekord für Elfriede Jelinek: 21 Einladung zu den Theatertagen Mülheim

Am Anfang ist der Lärm, das Publikum sitzt dabei 20 Minuten lang im Dunkeln. Aus allen Ecken dröhnen, als gerafftes Resümee und zur Einstimmung, noch einmal die Meldungen, Stellungnahmen, Expertenmeinungen und Repliken, die Warnungen, Beschwichtigungen oder absurden Verschwörungstheorien entgegen, die uns seit Beginn der Pandemie medial überflutet haben. „Glauben sie nichts“, bittet damals-noch-Kanzlerin Angela Merkel, „glauben Sie keinem Gerücht“. „Aber ich habe es selbst gelesen“, beharrt ein unbeirrbarer Besserwisser.

Später, wenn sich das Dunkel gelichtet hat, wenn das großartige und prominent besetzte Ensemble (u.a. Eva Mattes, Ernst Stötzner) in einer an die Pandemie-Keimzelle Ischgl erinnernden Ski-Lodge die bitterböse Corona-Kakophonie der Stimmen und Positionen mitreißend auslebt, fällt ein weiterer entlarvender Satz: „Ich weiß selbst nicht, was ich sage, aber dafür verstehe ich alles.“ Jeder weiß irgendwas, aber was ist wahr?

Jelineks Werk hat eine Bandbreite von der Antike bis zum Schlachthof als Virus-Hotspot

Über diese Frage kommt Elfriede Jelinek, die plötzlich einen völlig verrückten und trotzdem einleuchtenden Abstecher in die Antike macht (Zauberin Kirke verwandelt die Männer des Odysseus in Schweine), von da zu unseren Schlachthöfen als Virus-Hotspot gelangt (der Fall Tönnies) und die Schweine-Metapher dann natürlich auf die testosterongesteuerte Männerwelt und auf rechtes Gedankengut anwendet, schließlich spielerisch zu Martin Heidegger. „Die Wahrheit besteht in ihrer Erscheinung“ heißt es dann, das ursächliche Sein interessiert kaum.

Am Ende steht ein eher skeptisches, mit humoristischer Schärfe präsentiertes Fazit. Die durch klassische und sogenannte soziale Medien verstärkten unterschiedlichen Corona-Wahrnehmungen und –Reaktionen haben eine gespaltene Gesellschaft hinterlassen.

Inszenatorisch und ästhetisch neue Wege im Wettbewerb schlug zuvor „All right. Good night“ des Berliner Theaterkollektivs „Rimini Protokoll“ ein. Autorin und Regisseurin Helgard Haug hat ein Stück ohne Spiel, ohne gesprochenes Wort geschrieben. Es sind Musiker und Musikerinnen des Berliner Zafraan Ensembles, die auf der Bühne das Nicht-Geschehen allein durch fesselnde, oft an die Musik von Eckard Koltermann erinnernde Klangebenen begleiten. Der Text selbst wird nicht gesprochen, sondern, gleich einem gigantischen E-Book-Reader, auf einen Gazevorhang projiziert.

Helgard Haug ist mit „All right. Good night“ im Rennen um das beste Gegenwartsstück

Haug versucht, zwei Formen von Verschwinden zu verzahnen – ein kollektives physisches und ein individuelles psychisches. Dem bis heute ungeklärten Verschwinden der Passagiermaschine MH370 auf dem Flug von Peking nach Kuala Lumpur im Jahr 2014 stellt sie die zeitgleich einsetzende Demenz ihres Vaters gegenüber. Doch bis auf wenige Momente, in denen vergleichbare Verlusterfahrungen nachfühlbar werden, bleiben die beiden Perspektiven isoliert. Zu einer Durchdringung kommt es nicht, der dramatische Ring will sich nicht schließen. Bleibt eine durchaus spektakuläre Performance, die mit zweieinhalb Stunden überdeutlich zu lang geraten ist.