Dortmund. In Dortmund inszeniert Intendantin Julia Wissert einen etwas anderen Euripides. Hier zieht Dionysos mit deprimierten Jugendlichen in die Berge.
Schwache Besucherzahlen, Krach hinter den Kulissen: Für Dortmunds Schauspiel-Chefin Julia Wissert läuft es gerade gar nicht rund. Umso größer war am Samstagabend die Neugierde, wie ihr der Start in die dritte Spielzeit am Hiltropwall gelingen würde – und ob ausgerechnet ein bald 2500 Jahre alter Text dazu geeignet ist, neuen Schwung ins kriselnde Schauspielhaus zu bringen.
Augenfällig: Stärker als zuvor setzt die Intendantin auf die Klassiker-Karte. Nach dem „Woyzeck“ vor einer Woche im Studio sind nun „Die Bakchen“ des Euripides an der Reihe. Wissert und ihre inzwischen aus dem Leitungsteam ausgeschiedene Ex-Chefdramaturgin Sabine Reich (beim Schlussapplaus ist die dabei) geben dem antiken Drama sogar einen Untertitel: „Die verlorene Generation“.
Den Jugendlichen ist das Leben über den Kopf gewachsen
Die Idee ist nicht uninteressant: Statt mit einer Schar dem Wahn verfallener Frauen zieht Dionysos, Gott des Weines und der Wollust, diesmal mit Jugendlichen in die Berge, denen das Leben in unserer Gegenwart beträchtlich über den Kopf gewachsen ist. Die Texte dafür stammen von der Internet-Plattform „Wattpad“, auf der sich junge Nutzerinnen und Nutzer düstere Gedanken machen über Depression und Suizid.
Auch interessant
Dargeboten wird dies von Studierenden des „Physical Theatre“ der Folkwang-Uni, die in Zeitlupentempo und mit irritierendem Dauergrinsen wie ferngesteuert über die Bühne kriechen (Choreographie: Keelan Whitmore). Schade nur, dass ihre bitteren Sätze wie „Ich bin eine Enttäuschung, ich bin ein Unfall“ kaum zu verstehen sind, weil Wissert sie unablässig durch einen Sprachverzerrer jagen lässt, der eine Menge Distanz schafft zwischen den jungen Leuten und den Zuschauern im Parkett.
Dabei ist Distanz garantiert das Letzte, was die Regisseurin mit diesem Abend erreichen möchte. Ihre Inszenierung strotzt vor farbenfrohen Bildern, satten Beats und pulsierendem Licht.
Auf der Grenze zwischen Performance und Installation
Riesige Videoanimationen und eine Drehbühne, die dauernd in Bewegung ist, sorgen für eine veritable Augenweide. Bevor Julia Wissert nach Dortmund kam, wurde sie bekannt für derlei Arbeiten, die mutig tänzelten auf der Grenze zwischen Performance und Installation (noch gut in Erinnerung ist ihre Zukunftsvision „2069 – Das Ende der Anderen“ in Bochum). Dass sie jetzt endlich auch an neuer Wirkungsstätte mal etwas couragierter als bislang gesehen zu Werke geht, ist eine erfreuliche Nachricht.
Dionysos wird in Dortmunds Inszenierung zur Pop-Diva
Die Schauspieler folgen ihr auf diesem Weg bereitwillig. Vor allem Antje Prust, die in Dortmund immer stärker gefordert wird, gibt ihrem Dionysos abgründigen Glanz. Wie sie schon vor Beginn der Aufführung durchs Foyer irrlichtert („Kennt ihr mich noch?“) und später als Pop-Diva über die Bühne tobt („Say my name!“), hat echten Wumms.
In einem lila Anzug, der auch in „Miami Vice“ getragen worden wäre, gibt Adi Hrustemović den Pentheus als unsicheren Zausel, während sein Großvater Kadmos (Alexander Darkow) beinahe bebend für die Interessen Thebens eintritt, wenn er nicht gerade ein paar halb gare Witzchen erzählt.
Schwer zu verstehen sind oft auch sie. In Sachen Sprechtraining ist in Dortmund einige Luft nach oben.