Essen. Das Theater kommt nach Hause: Thomas Krupa zeigt den Roman „Die Wand“ als VR-Aufführung. Schauspiel Essen baut digitales Angebot weiter aus.
Das Land im Sommer 2022: Die Sonne brennt, der Wald auch. Im Schauspiel Essen ist die Klimakrise mittlerweile ebenso angekommen – als ungewöhnliche Virtual-Reality-Produktion. Man muss nicht mal nach draußen gehen, um sich aufrütteln zu lassen. Mit der VR-Brille kommt das Theater per Kurierdienst direkt nach Hause.
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Regisseur Thomas Krupa hat „Die Wand“ als VR-Film realisiert. Marlen Haushofers Roman aus dem Jahr 1963 – zuletzt auch prominent mit Martina Gedeck verfilmt – wurde in den vergangenen Jahrzehnten auf vielerlei Weise gelesen. Mal als fundamentale Zivilisationskritik, mal als Emanzipationsgeschichte oder Beschreibung einer postnuklearen Apokalypse. Krupa, der zusammen mit dem Schauspiel Essen 2021 bereits mit der VR-Verfilmung von „Der Reichsbürger“ eine digitale Vorreiterrolle in NRW übernommen hat, legt den Fokus seiner VR-Fassung von „Die Wand“ nun auf die Auswirkungen des Klimawandels und auf die „prophetische Ökologiekritik der Autorin“, so das Theater in seiner Ankündigung für das Projekt, das am 2. September an den Start geht.
Der VR-Film passt in die Zeit. In einem Sommer mit Rekordtemperaturen, Rekordwassertiefstständen und steigendem Angstpegel vor nuklearen wie klimatischen Schreckensszenarien erschließt sich Krupas Lesart von die „Die Wand“ auf erschreckend aktuelle Weise. „Die gesellschaftlichen Korrektive haben versagt und so schaut die eingeschlossene Frau nach einer Apokalypse auf ihr Leben zurück, das von Entfremdung, Hast und Fortschrittsglauben geprägt war“, heißt es im Begleittext für „Die Wand“.
So funktioniert die Lieferung
Zuschauer können Termine für „Die Wand (360%)“ unter vr-brille@tup-online.de buchen. Premiere ist am 2. September.
Kosten für eine Buchung inkl. Lieferung und Abholung der VR-Brille (ausschließlich) im Stadtraum von Essen: 26 Euro. Buchungen müssen am „Vorstellungstag“ bis spätestens 12 Uhr eingegangen sein, „Vorstellungen“ für Samstag und Sonntag müssen bereits bis Freitag, 12 Uhr gebucht werden.
Die bestellte VR-Brille inklusive abspielbereitem Film wird zum gewünschten Termin durch den Kurierdienst Stadtbote nach Hause geliefert und ein paar Stunden später wieder abgeholt.
Mehr Infos: www.theater-essen.de
Auf den Weg gebracht wurde das aufwendige Virtual-Reality-Projekt freilich schon vor Monaten. In der ehemaligen Schreinerei im Kulissenhaus des Grillo-Theater entstand ein eigenes, kleines Aufnahmestudio für das Film-Szenenbild, mit Bluescreen, maßgefertigtem Tiny-Haus und einem naturgetreu nachgebauten Waldstück; umringt von Kameras für die 360-Grad-Videoaufzeichnung, die die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Hause direkt ins Geschehen hineinziehen. Wie schon beim „Reichsbürger“ werden die notwendigen VR-Brillen dafür vom Schauspiel Essen ausgeliehen. Bei der Anschaffung hat die Brost-Stiftung mitgeholfen.
Der Kampf mit der Natur wird zum intensiven Erlebnis
Das Publikum trifft beim Theaterabend im virtuellen Raum auf eine namenlose Frau, gespielt von Floriane Kleinpaß, die eines Morgens einsam in einer Jagdhütte erwacht. Die Welt da draußen liegt plötzlich unerreichbar hinter einer unsichtbaren, nicht enden wollenden Wand. Doch Jagdhund Luchs und ein fester Überlebenswillen treiben die vollkommen auf sich gestellte Frau an, den Kampf mit der ungezähmten Natur aufzunehmen, zu jagen, die Erde zu bestellen und Holz zu hacken. Die Auseinandersetzung mit ihren Erinnerungen und Ängsten, mit Klima und Wetter wird zu einem intensiven Erlebnis, an dem auch der Zuschauer teilhaben kann. Mittels 360°-Aufnahmen, 3D-Klang und via VR-Brille ist der Betrachter schließlich so nah dran am Spielgeschehen wie sonst nie.
„Wir zeigen, wie die Frau beginnt, sich Schritt für Schritt der natürlichen Umgebung anzugleichen und ein Teil dieses funktionierenden Systems wird“, sagt Thomas Krupa, der schon seit 2019 mit seiner Produktionsplattform „Collective Archives“ an Erzählformaten arbeitet, die sich zwischen Performance und Bildender Kunst bewegen. Der Erfolg von „Der Reichsbürger“ habe das Team schließlich ermutigt, mit der VR-Produktion am Schauspiel Essen weiterzumachen, die doch so ganz anders funktioniert als herkömmliche Theaterarbeit, so Krupa. Wenn Schauspieler wie Alexey Ekimov plötzlich in so genannten Motion-Capture-Anzügen stecken und sich dabei in einen Hund verwandeln, die Skyline von Essen als 3D-Scan gezeigt wird und der Text vorab im Tonstudio aufgenommen wird.
Weil die Arbeitsweisen einer VR-Produktion so ganz andere sind, haben Krupa und sein Team das „Making of“ von „Die Wand“ auf der Theater-Essen-Homepage sogar online gestellt. In regelmäßig aktualisierten Beiträgen ist da zu sehen, wie aufwendig sich die Dreharbeiten für einen VR-Theaterabend gestalten, vom Bühnenbau bis zur Postproduktion im Dortmunder U-Turm. Für Krupa ist das VR-Projekt jedenfalls eine zukunftsweisende Weiterentwicklung der Theaterarbeit, eine eigene ästhetische Form zwischen Film, Kunstwerk und Techniken aus dem Gaming-Bereich.