Essen. Kino, Fernsehen, Internet: Weil ständig Medien hinzukommen, wächst die Anzahl der Neuproduktionen immer schneller. Eine Entwicklung mit Folgen.
1952 wurde durch die britische Filmpublikation „Sight and Sound“ eine Liste der „besten Filme aller Zeiten“ veröffentlicht. Es war die erste ihrer Art und als die besten drei gingen aus der Umfrage hervor „Fahrraddiebe“ (1948), „Lichter der Großstadt“ (1931) und „Goldrausch“ (1925). Seither erfolgte alle zehn Jahre eine neue Abstimmung; die letzte ergab 2012 diese Reihenfolge: „Vertigo“ (1958), „Citizen Kane“ (1941) und „Die Reise nach Tokyo“ (1953). „Sight and Sound“ befragt dabei stets eine internationale Kritikerschaft, seit 1992 in einer parallelen Auszählung auch Regisseure. Die Schnittmenge zwischen den beiden Listen ist erstaunlich groß.
Auch der Beginn des Privatfernsehens hatte Einfluss
In Sachen Film aber fällt es zusehends schwer, einen Überblick zu gewinnen. Nie zuvor wurden so viele Filme weltweit produziert und zur Veröffentlichung gebracht, nie war es unübersichtlicher.
Bis zum Ende der 1950er-Jahre war das Kino der alleinige Wahrnehmungsort für Filme. In den 1960er-Jahren kam das Fernsehen hinzu, das Kinofilme prominent vorstellte und zu Filmreihen (Themen, Regisseure, Schauspieler) ordnete. In den 1980er-Jahren steigerte sich der Produktionsspiegel, weil es zwei weitere Verbreitungswege für Film gab: das Privatfernsehen und den Videomarkt, für den eine zunehmende Anzahl von Filmen exklusiv produziert wurde. Am Ende des Jahrzehnts sorgte die Schiene des Bezahlfernsehens für ein zusätzliches Absatzfeld.
Filme als Magnet für Streaming-Plattformen
Seit Mitte der 2000er-Jahre ist der Filmmarkt schrittweise auf digitale Trägermedien umgestiegen, was die Kosten für den Vertrieb eklatant senkte. Im Gegenzug aber konnten Filme nun mühelos auf illegalem Wege kopiert und im Internet verfügbar gemacht werden.
Seit der zweiten Hälfte der 2010er-Jahre sind die Streaming-Plattformen hinzugekommen, die frische Filme als Verkaufsmagneten erstellen. Zugleich wurden die Abstände zwischen Kino- und Streaming-Veröffentlichung immer kürzer. Bis dahin, dass der Disney-Konzern den Blockbuster „Black Widow“ in die Kinos brachte, in den USA aber schon am Folgetag auch auf seinem Streaming-Dienst verbreitete.
Dahinter steckt die immer schnellere Jagd nach Geld
„Was beliebt, ist auch erlaubt“, sagte Wilhelm Busch, doch immer mehr vom Beliebten führt nicht zwangsläufig zu mehr Vielfalt. Wenn Filme einen Weltmarkt zu bedienen haben und auch in Ländern Kasse machen sollen, in denen die Politik dem Kino noch strikte Auflagen macht – dann ist weder künstlerischer Wagemut noch inhaltlich Provokantes zu erwarten. Hollywoods Blockbuster zeigen das seit zehn Jahren; Filme wie „Green Book“ oder „Spotlight“ sind Ausnahmen von der Regel.
Auch interessant
Die immer schnellere Jagd nach Geld und ein Anwachsen der Filmproduktion könnte zum Niedergang der Filmgeschichte führen. Es ist eben wichtig, dass Produkte, wie Filme auch, eine Wertschätzung im Einzelnen und nicht nur im Massenkonsum erfahren. Ein Marktgeschehen, das immer stärker auf immer schnellere Kasse für immer größere, teurere Filme setzt, verkauft sich an Erwartungen, die spiralförmig nach immer neuen Sensationen in immer kürzerer Zeit verlangen. Zugleich fußten 2021 die erfolgreichsten Kinofilme 2021 (James Bond und Spider-Man) auf bewährten Marken.
Das Gesetz der florierenden Serie
Seit den 90er-Jahren bestimmt der Markt der Jugendlichen zwischen zwölf und 16 zunehmend über Erfolg und Misserfolg von Filmen – und damit über das, was überhaupt produziert wird. Hier liegt auch der Grund dafür, dass Streaming-Dienste nach dem Erfolg von „Dark“ und „Stranger Things“ über Jahre hinweg fast nur noch Mystery- und Krimiserien erstellten.
Auch interessant
Wenn aber Filme nur noch für den Sofortverzehr gemacht und vertrieben werden, sinkt zwangsläufig die Aufmerksamkeitsspanne für das einzelne Werk. Wer einen Film im Abo streamt, kann auf Wunsch schon nach Sekunden zu einem anderen Film wechseln. Algorithmen registrieren ein solches Konsumentenverhalten – und stellen Weichen für die Zukunft. Der einzelne Film wird immer weniger wert.
Die neue Bestenliste wird mit Spannung erwartet
Bleibt angesichts dieser Entwicklung noch Raum für Reflexion und Austausch? Platz für Interesse an Filmkritik? Wird die, wird ihre Fähigkeit zum Einordnen, zur Orientierung nicht sogar wichtiger in der Flut des Neuen? Vielleicht kommt es ja nicht von ungefähr, dass die neue Bestenliste von „Sight and Sound“ mit Hochspannung erwartet wird.