Ouistreham. „Wie im echten Leben“ zeigt Juliette Binoche als Undercover-Autorin in einer Schar Laiendarsteller. Eine gelungene Balance aus Drama und Komödie.

So heißt ein Kaff an der normannischen Küste, ein Fährhafen gleich bei Caen, wo dreimal am Tag die Fähre nach Portsmouth ablegt. Zwischen An- und Ablegen müssen im Akkord Kabinen gereinigt und Betten bezogen werden. Ein Knochenjob für das Minijob-Prekariat. Und unter dieses – ohne diesen Spoiler lässt sich der Film nicht erzählen – mischt sich Juliette Binoche als Marianne Winckler. Eine Buchautorin, die über Not, Elend und das kleine Glück dieser Menschen einen Roman schreiben will.

Also spielt sie – deutlich besser aussehend – so etwas wie den Günter Wallraff der 2020er-Jahre und mischt sich mit falscher Legende in die Putzkolonne. Angeblich vom Mann verlassen, aus einer anderen Stadt zugezogen, fängt sie, genau, ganz unten an: Bei einer Putzfirma, wo sie nach einer kurzen Ausbildung an Reinigungsmaschinen Ferienhäuser reinigt, Widerworte gibt, rausfliegt und sich so ganz allmählich einfindet in den Kosmos der so genannten kleinen Leute.

Geistiger Diebstahl bei jenen, die eh nichts haben

Heimlich macht sie Notizen über die Sprüche und Episoden. Doch mit dem Material fürs Buch wächst auch die Bindung zu den Frauen und auch zu einem Mann (Didier Pupin), der vorsichtig mit ihr flirtet, seine Träume offenbart: Einmal im Leben wolle er, Cédric, es noch einmal zu etwas bringen, seinen eigenen Pizzatruck haben. Keine Fritten, keine Muscheln, nur Pizza.

Eine besonders enge Freundschaft entsteht zu Christèle (Helen Lambert), einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern, die über die merkwürdige Marotte ihrer neuen Freundin, manchmal ab und zu einfach am Strand zu liegen und aufs Wasser zu schauen oder sogar – Gipfel der Exaltiertheit – im kalten Meer schwimmen zu gehen. Dieser Abstecher verwirrt Christèle, die mangels Geld im Zweifel auch kilometerweit zur Arbeit läuft. „Ich habe wirklich keine Zeit aufs Meer zu gucken“, sagt Christèle. Mariannes Antwort atmet die Pariser Privilegien: „Dann nehmen wir sie uns einfach.“

Helene Lambert (li.) als Christéle, Juliette Binoche als Marianne Winckler und Léa Carne (re.) als Marilou in „Wie im echten Leben
Helene Lambert (li.) als Christéle, Juliette Binoche als Marianne Winckler und Léa Carne (re.) als Marilou in „Wie im echten Leben". © Neue Visionen/dpa

Im Gegenzug lernt Marianna selbstgemixten Mojitos zu schätzen, aus der Kühlbox im Kofferraum auf dem dem Parkplatz vor der Bowling-Bahn getrunken. Damit das teure Bowling-Vergnügen den Etat nicht noch mehr strapaziert. Das kleine Glück der kleinen Leute und ein Stück Sozialkitsch für das geplante Buch.

Doch je enger die Bindungen zu Christèle und den anderen Kolleginnen werden, desto größer wird auch das Problem der Autorin: Aus den Zweckbündnissen zu Recherchezwecken werden echte Bindungen – die auf Mariannes Lügengebäude beruhen. Was wird aus den Freundschaften, wenn die Fassade fällt? Wie reagieren sie, die nichts haben, darauf, dass jemand bei ihnen nun auch noch geistigen Diebstahl begeht? Sich ihre Gefühle, Gedanken und Lebenslagen als Material zu eigen macht für den eigenen Erfolg und weiteren Aufstieg?

Bestsellerautor Carrère liefert Regie und Drehbuch

Emmanuel Carrère, hierzulande besser bekannt als sich selbst beschreibender Buchautor, der gerade mit „Yoga“ die Bestsellerlisten erklommen hat, führt die Regie bei diesem kurzweiligen Drama, in dem das raue Leben der Akteure mit dem äußerst ruppigen Charme der nordfranzösischen Städte und Landschaften verbindet. Dort übrigens, wo Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen einen deutlichen Stimmenvorsprung vor Emmanuel Macron hatte.

Der Film macht zumindest nachvollziehbar, woher die Unzufriedenheit und Wut der Menschen kommen, die sich vom Staat und seinen Institutionen verlassen und vom Aufstiegsversprechen abgehängt fühlen. Und der Film hält geschickt die Balance zwischen Sozialdrama und Komödie, was sich auch dem unverbrauchten Laien-Darstellerinnenteam verdankt.

Denn Juliette Binoche, Mitproduzentin des Films, hat die Versuchsanordnung der Buchautorin – die das Projekt tatsächlich 2010 bereits umsetzte – (Florence Aubernas: Putze. Mein Leben im Dreck. Piper Verlag) auf den Film übertragen und mit Amateurinnen gedreht. Immerhin hatten sie einen Vorteil: Sie wussten von Beginn an, dass sie mit einem Weltstar zusammenarbeiteten.