Essen. Am Beispiel„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ ist zu sehen: Alte Filme zu colorieren, die Distanz aufzuheben – das ist ein Eingriff in die Filmkunst.

100 Jahre – an dieses Jubiläum wird man sich gewöhnen müssen. Denn unweigerlich werden nun auch die Großtaten aus dem abschließenden Jahrzehnt der Stummfilmära ein dreistelliges Alter erreichen. Jüngstes Beispiel ist „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, nicht die erste Adaption der berühmten Erzählung von Robert Lewis Stevenson aus dem Jahre 1886, wohl aber die erste in abendfüllender Länge und zugleich der Film, der seinen Hauptdarsteller John Barrymore parallel zur Bühne auch zum Star der Leinwand erhob. Und in seiner jüngsten Veröffentlichung auf DVD ist es nun auch ein Farbfilm.

Das Schwarzweiß-Original wird neu abgetastet – und bekommt eine bunte Alternative

Reaktionen auf eine solche Meldung variieren zwischen Schulterzucken und einem Aufschrei der Empörung, neuerdings gehört aber auch neugieriges Interesse dazu. Christian Aberle bringt „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ mit seiner Verleihfirma Aberlemedia in der colorierten Fassung auf dem deutschen Home-Entertainment-Markt als Doppel-DVD heraus – einmal mit neu abgetastetem Bild fürs Original in Schwarzweiß und eben in einer Alternativversion in Farbe.

Aberle ist überzeugt, dass Farbe das entscheidende Kriterium ist, um heutige Filmzuschauer für alte Filme zu begeistern: „Bei einem Schwarzweiß-Film steigen die Leute, und nicht nur die Jugendlichen, schon nach wenigen Szenen wieder aus.“ Ergänzend wird zudem auf Erhebungen hingewiesen, denen zufolge Schwarzweiß-Filme bei vorbelasteten Zuschauergruppen nervöse Schäden hervorrufen können.

Unabhängig von solch zweifelhaften medizinischen Beurteilungen gibt es den unumstößlichen künstlerischen Beweis, dass Stummfilme schon wegen der Begleitung mit Livemusik nicht lautlos waren; sie waren auch keineswegs nur von einer Schwarzweiß-Ästhetik geprägt.

Ein Weg zur Farbe ist die Viragierung. Bei diesem Verfahren werden Szenen gemäß ihrer dramatischen Stimmung mit einem Farbwert akzentuiert, etwa Tagesaufnahmen in Gelb, Nachtaufnahmen von Blau, dramatische Spannung erglüht rot, der Dschungel schillert grün. Noch eindrucksvoller sind jene Filme, die ganze Szenen mehrfarbig präsentierten (etwa die Bibelszenen in „Ben Hur“ 1925 oder im gleichen Jahr die Maske-des-roten-Todes-Sequenz in „Das Phantom der Oper“) oder gleich ganz als Farbfilm („The Toll of the Sea“ 1922, „Der schwarze Pirat“ 1926) angelegt waren.

Gesichter in Schweinchenrosa und bizarre Farbspiele wirken abschreckend

In jedem dieser Fälle war Farbe eine gewollte künstlerische Entscheidung. Einen ganzen Film nachträglich in Farbe zu tränken, setzt diese Entscheidung außer Kraft. Als Fernsehunternehmer Ted Turner zur Mitte der 1980er-Jahre US-Filmklassiker wie „Casablanca“, „King Kong“ oder „Citizen Kane“ in einem damals noch archaischen Digitalverfahren einfärben ließ, liefen Regisseure wie Steven Spielberg, Martin Scorsese, John Huston und Orson Welles gegen bizarre Farbspiele und Gesichter in Schweinchenrosa Sturm. 2018 hingegen avancierte Peter Jacksons Dokudrama „They Shall Not Grow Old“ zum Welterfolg, weil er einem staunenden Publikum zeigte, welch vorzügliche Resultate bei der Einfärbung von Filmen dank fortgeschritten er Digitaltechnik möglich sind.

Farbe hebt Distanz auf, historisch Entrücktes erscheint plötzlich unmittelbar erfahrbar. Ein zwiespältiger künstlerischer Eingriff bleibt es dennoch, weil die ästhetischen Kriterien und Stilmittel der Kunstform Schwarzweiß auch bei größter Sorgfalt ignoriert und letztlich verfälscht werden. Wenn nun also der mörderische Triebmensch Edward Hyde sich mit grotesk entstelltem Gesicht seinem Opfer zuwendet und uns Zuschauern immer noch einen Schauer über den Nacken treibt – muss das wirklich bunt sein? Der Zeitgeist will es wohl so. Das Original entschwindet im Zirkel der Puristen – und dann im Dunkel der Geschichte.

„Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, Regie: John S. Robertson. Aberlemedia/ Studio Hamburg Enterprises.