Berlin. Was für ein Tag voller Symbolik! Er steht für die März-Revolution 1848, noch einmal für die erste freie Volkskammerwahl in der DDR am 18. März 1990. Kein schlechter Tag, um Joachim Gauck zum Bundespräsidenten zu wählen. Nun wird das Land von zwei „Ossis“ repräsentiert, von Gauck und Kanzlerin Angela Merkel.

Joachim Gauck ist ein Wortartist, ab sofort: am Hochseil. Er kann glänzen. Und stürzen. Es spricht freilich mehr dafür, dass er als Bundespräsident die Balance halten wird. Erstens, die meisten Bürger und nahezu alle Parteien stehen zu ihm. Das ist ein Pfund. Der letzte Bundespräsident, der so ein Glück hatte, war Richard von Weizsäcker, und auch nur in der zweiten Amtszeit. Bei Gauck ist es blinde Liebe. In Umfragen sagen viele Menschen, dass sie ihn mögen, aber nicht wissen, wofür er steht. Das heißt also: Es kommt nicht nur darauf an, WAS er sagt, sondern WIE er es tut.

Die Macht des Wortes ist Gaucks Stärke

Da kommen ihm, zweitens, die Predigerqualitäten zugute. Ein Bundespräsident hat, streng genommen, nur die Macht des Wortes. Und das ist genau Gaucks Stärke. Da ist er als Prediger in seinem Element. Bei einem Theologen vermutet man, drittens, einen moralischen Fundus. Es gibt also positive Vorurteile. Viertens kommt er nach Wulff – er kann nur positiv überraschen. Manche Leute haben eine Karriere, Gauck hat eine Biografie. Das ist der Unterschied. Fünftens ist der Präsident zur Selbstreflexion fähig. Das konnte man schon in den letzten Wochen beobachten. Und das wird ihm helfen, sich in Schloss Bellevue neu zu erfinden. Seine Themenpalette muss allerdings breiter werden. Einerseits.

Andererseits: Woran erinnert man sich bei den anderen Präsidenten? An Herzogs Ruck-Rede, an Rau in Israel, an Wulffs-Satz zum Islam in Deutschland, an Weizsäckers Rede zum 8. Mai. Das war es fast schon. Man hat die Chance, ein, zwei Mal Akzente zu setzen. Der Rest: Viel Repräsentation.

Medialen Rabatt gibt es nicht mehr

Eine Stärke ist zugleich Gaucks Schwäche: Er ist kein Politiker. Was die Politiker von anderen Berufsständen unterscheidet, ist die permanente Kritik. Das kennen sie nicht anders, das halten sie aus. Der erste Mann im Staat war lange Zeit eine Ausnahme. Er stand über den Parteien, aber auch jenseits von Streit. Aber diesen medialen Rabatt (vielleicht Wulff größte Fehlkalkulation) gibt es nicht mehr. Die Frage ist also, wie kommt Gauck damit klar, wenn er heftig kritisiert wird. Legte er sich eine Hornhaut an. Schon der Zwang zur Selbstdisziplin wird ihm zu schaffen machen, ebenso die Widersprüche seiner Wahl: Wenn er sich selbst treu bleibt, wird Gauck polarisieren und spaltet das Land. Wenn er sich zurücknimmt, verliert der Mann an Authentizität.

Gauck könnte Merkel auf zwei Art zusetzen. Zum einen wird im direkten Vergleich klar, was ihr abgeht. So politisch gefühlig wie Gauck weiß sie sich gar nicht zu bewegen. Zum anderen könnte leicht der Eindruck aufkommen, dass die Bundesrepublik eine Schlagseite hat: Zwei „Ossis“, zwei Protestanten, zwei Liberal-konservative. Die nächste Gelegenheit, für eine neue Balance zu sorgen ist die Bundestagswahl.