Kreis Kleve. Zwölf Jahre wurden zig Maßnahmen für das EU-Vogelschutzgebiet Niederrhein nicht umgesetzt. Darum hat Artenschutz in der Praxis keine Priorität

Manchmal gibt es Fragen, auf die benötigt ein Journalist noch nicht einmal mehr Antworten, um feststellen zu können, dass jahrelang von den Behörden nichts bearbeitet worden ist. Etwa in Sachen Naturschutz: Vor ziemlich genau zwölf Jahren haben sich die Biologischen Stationen am Niederrhein mit dem Landesumweltministerium zusammengesetzt und ein Konzept für eines der wichtigsten und größten Naturschutzgebiete in NRW erarbeitet: Das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein, welches sich von Kleve / Emmerich entlang des Rheins bis nach Duisburg erstreckt, sollte mit vielen Artenschutzmaßnahmen gestützt werden. Doch in der Praxis ist in zwölf Jahren nur wenig geschehen. Warum?

Die Gebietskulisse für das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein.
Die Gebietskulisse für das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein. © Land NRW | Land NRW

Dietrich Cerff leitet die Biologische Station des Naturschutzbundes im Kreis Kleve und wenn er sich das „Maßnahmenkonzept für das EU-Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein“ aus dem Jahr 2011 noch einmal ansieht, dann kann er selbst mit bestem Willen kaum wirksame Maßnahmen zum Schutz der Artenvielfalt entdecken. Denn darum ging es Initiatoren damals: Der in Montreal jüngst beschworene Artenschutz sollte ganz konkret für das EU-Vogelschutzgebiet auf den Weg gebracht werden. Denn trotz zahlreicher Gesetze und Vorgaben ist es um viele Tierarten und Lebensräume in diesem Natura-2000-Gebiet schlecht bestellt. Was auf internationalen Konferenzen vollmundig proklamiert wird, endet in der Praxis meist enttäuschend.

Kein Projekt wurde vollständig umgesetzt

Die Praxis kennt Dietrich Cerff nur zu gut. Der Biologe ist oft in der Natur unterwegs und er sieht tagtäglich, was alles schief läuft in unserer Umwelt. Jedes Jahr geht es weiteren Arten schlechter, jedes Jahr wird der Lebensraum für Pflanzen und Tiere eingeschränkt. Dicke Bücher über das Artensterben mag er schon gar nicht mehr lesen: „Davon werde ich immer so depressiv.“

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Und in der Tat ist es zum Heulen, wenn man sich die dürftige Bilanz des Naturschutzes in diesem konkreten Fall anschaut: Dietrich Cerff blättert in dem dicken Maßnahmenkatalog und kramt die tabellarische Auflistung hervor. Mit dem Finger fährt er über die Einträge und muss immer wieder feststellen, dass Punkte, die man vor zwölf Jahren mit dem Land NRW abgesprochen hat, nicht wirklich zur Zufriedenheit gelöst worden sind. Im Gegenteil.

Es wurde nie eine Vollzeitstelle für die Umsetzung geschaffen

Abgesprochen war zum Beispiel die Schaffung einer Vollzeitstelle, die sich um die Umsetzung der Maßnahmen kümmert. Passiert ist nichts. Aus dem Ministerium erhält die NRZ die Antwort, dass man die Aufgaben über die vorhandenen Stellen bewältigt habe. Oder auch nicht: Allein die Beantwortung von zwölf Fragen der NRZ im Zusammenhang mit dem Maßnahmenkatalog hat fast acht Wochen in Anspruch genommen. Hätte jemand den Hut für dieses wichtige EU-Naturschutzgebiet auf gehabt, wären die Informationen vermutlich griffbereit gebündelt worden.

Nun, was wurde alles (nicht) gemacht? Selbst diese Frage lässt sich nicht im Detail so einfach klären, weil die anvisierten Projekte nicht für eine Erfolgskontrolle beigehalten worden sind. So wurde etwa verabredet, die Bodenfeuchtgebiete auf 2500 Hektar zu erhöhen, um vielen wasserliebenden Tierarten einen besseren Lebensraum zu gestalten. Für den Flächenankauf sollten zirka 60 Millionen Euro bereitgestellt werden, für die Aufhebung von Drainagen und für die Anstauung von Gräben weitere 750.000 Euro. Das Ministerium teilt uns mit: „Konkrete Zahlen können hierzu nach Mitteilung der Bezirksregierung nicht genannt werden.“ Seit 2011 habe es eine Vielzahl von Projekten gegeben: „Die genauen Hektarzahlen sind darüber hinaus nur schwer zu ermitteln, da es ja nicht nur um die reinen Wasserflächen geht, sondern um Bereiche mit stocherfähigem Boden“, so das Ministerium. Dietrich Cerff schätzt, dass im Kreis Kleve im angedachten Projektzeitraum maximal 150 Hektar vernässt worden sind. Offenbar weiß niemand etwas Genaues.

Verabredete Flachwasserzonen wurden kaum angelegt

Ebenso enttäuschend sei die Schaffung von Flachwasserzonen verlaufen, so Cerff. „Da ist nicht viel passiert“, sagt der Nabu-Mann. In 14 Gebieten hätten jeweils zehn Hektar angelegt werden sollen. 35 Millionen Euro hätte dies kosten sollen. Doch nicht einmal zehn Prozent wurden tatsächlich umgesetzt. Das Ministerium schreibt, dass im Kreis Wesel Blänken im Umfang von 11,2 Hektar angelegt worden seien und mehrere Kleingewässer in einer Größenordnung von 0,7 Hektar. Im Kreis Kleve sei eine genaue Angabe wiederum nicht möglich: Hier seien aber im Winter und Frühjahr zahlreiche gestaute Grünlandflächen, Blänken, Senken und Leegden als Wasserflächen entstanden.

Entlang des Rheins erstreckt sich das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein, welches auch auf europäischer Ebene geschützt ist. Hier das Naturschutzgebiet Salmorth in Kleve.
Entlang des Rheins erstreckt sich das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein, welches auch auf europäischer Ebene geschützt ist. Hier das Naturschutzgebiet Salmorth in Kleve. © NRZ | Andreas Gebbink

Drittes Beispiel: 150 Hektar Röhrichtfelder hatte man sich vor zwölf Jahren vorgenommen. Passiert ist – wenig. Im Kreis Kleve wurden gar keine Röhrichte angelegt, weil in den angedachten Kiesseen keine notwendigen Flachwasserbereiche vorhanden waren und bei Gut Grindt biss die Nutria zu. Im Kreis Wesel wurden 9,8 Hektar Röhrichte angelegt und in Duisburg auf einer kleinen Fläche von unter einem Hektar. Zusammengenommen erneut ein Umsetzungsgrad von weniger als zehn Prozent.

Flutmulden und Nebenrinnen am Rhein wurden ebenfalls kaum angelegt

Es gibt noch weitere Punkte, die nicht wie im Maßnahmenkatalog vorgesehen abgearbeitet worden sind: So wurden die Nato-Straßen im Kreis Kleve nicht – wie vorgesehen – zurückgebaut. Im Kreis Wesel wurde bereits vor einigen Jahren die Straße im Orsoyer Rheinbogen entfernt.

Auch die Ziele für die Anlage von Flutmulden und Nebenrinnen wurden weit verfehlt. 21 Kilometer Nebenrinnen sollten geschaffen werden. Die Emmericher Ward und die Bislicher Insel umfassen gerade mal drei bis vier Kilometer. Weitere Nebenrinnen sind für den Rhein nicht in der Planung. Bei den Flutmulden sieht es nicht besser aus. 60 Flutmulden sollten geschaffen werden. Das Ministerium benennt in seiner Antwort die Naturschutzgebiete „Hüsche Grändort“, „Grietherorter Altrhein“, „Salmorth“ und „Emmericher Ward“, wo man Flutmulden angelegt habe beziehungsweise noch anlegen werde.

Es wird nur wenig Geld für Artenschutz bereitgestellt

Dietrich Cerff ist enttäuscht, dass insgesamt so wenig Geld und Manpower für den Erhalt der Artenvielfalt aufgewendet wird. Er sieht überall gewaltige Lücken. Der Landesetat in NRW betrage gerade einmal 35 Millionen Euro, in den benachbarten Niederlanden werden öffentliche Mittel in Höhe von 1,5 Milliarden Euro für den Naturschutz bereitgestellt, sagt er. Wenn man die Arten am Niederrhein erhalten wolle, dann müsse man den konkreten Naturschutz auch ernster nehmen.

Das NRW-Umweltministerium gibt an, dass die Umsetzung der Maßnahmen für das Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein nach wie vor „eine hohe Priorität“ habe. Ziel sei es, die Biodiversitätskrise wirksam zu bekämpfen. So wolle man in dieser Legislaturperiode den Naturschutzhaushalt verdoppeln und ein umfangreiches Landesprogramm zur Bewahrung der heimischen Artenvielfalt auflegen. Ferner teilt das Ministerium der NRZ mit: „Wir werden den bisherigen Stand der Umsetzung aber zum Anlass nehmen, in Gesprächen mit den zuständigen Stellen die Umsetzung des Maßnahmenkonzeptes Vogelschutzgebiet Unterer Niederrhein zu bewerten und Schlussfolgerungen für weitere Schritte festzulegen.“

>> Wer ist verantwortlich?

Wenn man einen Maßnahmenkatalog aufstellt und Projekte benennt, dann muss auch jemand verantwortlich sein. Dietrich Cerff sieht die Zuständigkeit für die Umsetzung von Maßnahmen in Natura-2000-Gebieten eindeutig beim Land NRW. Unter den christdemokratischen Umweltministerien sei viele Jahre gar nichts passiert, so sein Eindruck.

Das NRW-Umweltministerium sieht es anders: Das Maßnahmenkonzept sei ein Umsetzungsplan, sondern vielmehr ein Fachkonzept, welches die erforderlichen Maßnahmen zur Sicherung der wertbestimmenden Vogelarten darstelle. Die genannten Maßnahmen sollten durch die zuständigen Kreise Kleve und Wesel sowie durch die Stadt Duisburg mit den Grundstückseigentümern umgesetzt werden.

Kooperation und Freiwilligkeit würden dabei ausdrücklich bei der Umsetzung der Ziele im Vordergrund stehen. Die Behörden sollen das Konzept bei kommunalen und regionalen Planungen beachten und eine Umsetzung der Maßnahmen voranbringen, so das Ministerium.