Kalkar. 1985 wird der Schnelle Brüter in Kalkar fertig. Doch er geht nie ans Netz. Jahrelange Proteste am Niederrhein gegen das geplante Atomkraftwerk.
Im Juli 1985 gibt Friedhelm Farthmann dem Spiegel ein aufsehenerregendes Interview. Er warnt davor „ein Höllenfeuer zu entfachen“. Es ist eine bemerkenswerte Wende, weil Farthmann, damals Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion, sich mit diesen Worten dagegen ausspricht, den Schnellen Brüter in Kalkar ans Netz zu nehmen. Ausgerechnet in dem Jahr, in das Milliarden-Projekt fertiggestellt wird und ausgerechnet Farthmann, der zuvor als Minister etliche Teilerrichtungsgenehmigungen für das Projekt erteilte, das wie kein ein anderes am Niederrhein heftige Proteste ausgelöst hatte.
Rückblick. Herbst 1977. Die Republik ist in Aufruhr, die Staatsmacht so nervös wie nie. Die RAF hat in den vergangenen Monaten mit ihrer Offensive `77 das Land erschüttert. Im April wird Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet, im Juli Jürgen Ponto, der Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Anfang September entführt ein RAF-Kommando den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer.
Am Abend des 23. September bekommen Anti-Atomkraftaktivisten in Kleve die Nervosität der Staatsmacht zu spüren. In der Wohngemeinschaft im „Haus am Damm“ bereiten sich an diesem Abend Bruno Schmitz und seine Mitbewohner auf ein Mammut-Ereignis vor: Die Großdemonstration gegen den Schnellen Brüter.
Breite Teile der Bevölkerung und die Politik glaubten Verheißungen der Atom-Industrie
Schmitz ist 30 Jahre, politisch links, Lehrer an der Hauptschule in Rees. Mit seinem dichten schwarzen Bart und seiner langen Mähne sieht er aus wie das Klischee-Bild des Bürgerschrecks. Er glaubt aber an den Rechtsstaat und daran, dass Proteste und gute Argumente verhindern, dass der Brüter ans Netz geht. Als der Brüter oder der „Schnelle Natriumgekühlte Reaktor SNR, Typ 300“ in den späten sechziger und siebziger Jahren geplant wurde, steckte die Anti-Atomkraftbewegung noch in den Kinderschuhen.
Breite Teile der Bevölkerung und die Politik glaubten den Verheißungen der Atom-Industrie. Nur durch den Einsatz der Kernenergie könne „der auch in Zukunft weiter stark anwachsende Energiebedarf sicher und preisgünstig gedeckt werden“ warb die Projektgesellschaft damals in einer Broschüre.
Hinter der Idee des Brüters stand die Furcht vor der Endlichkeit der weltweiten Uran-Ressourcen. Angereichertes Uran ist der Brennstoff für die üblichen Leichtwasserreaktoren. In den sogenannten „Schnellen Reaktoren“ soll Natrium anstatt Wasser als Kühlung dienen. Damit könnten Plutonium und natürliches, nicht angereichertes Uran verfeuert werden. Der Clou: Bis dato nicht spaltbare Urananteile werden somit zu spaltbarem Plutonium umgewandelt. Dank dieses Brutprozesses, so die damalige Überlegung der Forscher, würden die weltweiten Uran-Vorkommen einige zehntausend Jahre reichen.
Protest schwoll nur langsam an
Als die Theorie in die Praxis umgesetzt werden soll, fällt die Standortwahl für den Bau eines Reaktors mit einer Leistungskraft von 300 Megawatt auf das kleine Dorf Hönnepel bei Kalkar. Erstens, weil das Wasser aus dem nahe gelegenen Rhein als Kühlmittel für den Wasserdampf eingesetzt werden soll, der die Turbinen antreiben soll. Zweitens, weil in der Gegend vergleichsweise wenige Menschen leben. Im Katastrophenfall müssten nur einige Tausend evakuiert werden, so das Kalkül. Den Alternativ-Standort Weisweiler hatte die Reaktorsicherheitskommission RSK aus „sicherheitspolitischen Erwägungen“ wegen der Nähe zur Großstadt Aachen verworfen.
Der Protest gegen das gewaltige Bauvorhaben schwoll nur langsam an. Zunächst sammelten Bewohner des 550-Seelen-Dorfes Unterschriften, die Kirchengemeinde St. Regenfledis weigerte sich, das Land zu verkaufen, auf dem der Brüter hochgezogen werden sollte. Mitte 1971 bildete sich die erste Bürgerinitiative, die „Interessengemeinschaft gegen nukleare Versuchung“, ab 1972 gab es die ersten öffentlichen Proteste. Anfang 1973 rollte ein Enteignungsverfahren gegen die renitente Kirchengemeinde an. Am 23. April 1973 begannen die ersten Baumaßnahmen. Im September 1973 ordnete das bischöfliche Generalvikariat die Auflösung des widerständigen Kirchenvorstands an und verkauft das Land.
Bauer Maas wurde später die Schaltzentrale des Protestes
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Im gleichen Monat reichte der Bauer Josef Maas die erste Klage ein. Sein Hof direkt neben der Baustelle wurde später die Schaltzentrale des immer breiter werdenden Protestes, der im November 1973 aus den Niederlanden heraus bereits 10.000 Menschen nach Kalkar mobilisieren konnte. In den Folgejahren bildeten sich immer mehr Bürgerinitiativen. Auch Bruno Schmitz und seine Mitbewohner im Klever „Haus am Damm“ haben sich dem Protest angeschlossen und sie haben im Januar 1977 beschlossen, im Herbst eine große, eine machtvolle Demonstration zu organisieren.
Am 24. September soll es soweit sein. In den Wochen davor lassen Schlagzeilen in den lokalen Medien das Schlimmste befürchten. „Die Schlacht um Kalkar“ wird prophezeit, angeblich sollen linksextreme Gruppen den Sturm auf die Baustelle planen. Um den Brüter herum ist für zehn Millionen D-Mark ein gewaltiger, zwei Kilometer langer Schutzzaun samt Wassergraben gebaut worden. Schon seit Tagen marschieren Kolonnen von Polizisten auf, die Straßen um den Brüter sind abgesperrt worden.
Viel Nervosität vor den Demos
Der Schnelle Brüter und die Geschichte des Widerstands
In Kalkar, wo auf dem Markt die Auftaktkundgebung stattfinden soll, haben verängstigte Geschäftsleute ihre Schaufenster mit Brettern geschützt. Schmitz und die anderen Organisatoren der Demo haben in den vergangenen Monaten oft darüber diskutiert, wie weit sie gehen wollen, können, müssen. Sie haben beschlossen, friedlich zu bleiben. Spät abends stehen allerdings ungebetene Besucher vor der Tür ihrer Wohngemeinschaft. Schwer bewaffnete Polizisten haben das Haus umstellt, zielen mit Maschinenpistolen auf die Fenster, Panzerwagen sind aufgefahren. Hausdurchsuchung. „Wir vermuten hier Waffen, die morgen eingesetzt werden sollen“, sagt der Beamte, dem Schmitz die Tür öffnet. Die Polizisten drängen ins Haus, der junge Lehrer spürt einen Gewehrlauf im Rücken. Er hat Angst. „Mein Gott, was passiert, wenn einer von denen die Nerven verliert“, denkt er.
Die Beamten finden nichts. Bis auf eine Tüte mit Steinen, die die Atomkraftgegner für ihre Infotische brauchen, zum Beschweren der Flugblätter. Die Tüte wird mitgenommen. Auch Steine können Waffen sein. Auch am nächsten Tag zeigt der Staat die Zähne. Im Einsatz sind zehntausend Polizisten, sie durchsuchen sämtliche Busse und Autos, die nach Kalkar fahren. Selbst ein Zug wird auf offener Strecke angehalten. Mit Sand gefüllte Container versperren Straßen und Gassen. Hubschrauber kreisen über der Stadt.
1981 und 1982 werden Auseinandersetzungen gewalttätig
Die Befürchtungen der Staatsmacht kommen nicht von ungefähr. In den Monaten zuvor hat es bei Großdemonstrationen in Brokdorf, Grohnde und im französischen Malville bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen gegeben. In Kalkar wird es am 24. September friedlich bleiben. Rund 50.000 Menschen drängen sich an diesem milden Herbsttag auf dem Kalkarer Markt. Unter anderem spricht Robert Jungk, einer der bedeutendsten Pioniere der Umwelt- und Friedensbewegung.
Bruno Schmitz und seine Freunde singen Lieder gegen den Brüter. Schließlich ziehen die Demonstranten los, zur Wiese des Bauern Maas gegenüber dem Atomkraftwerk. Der befürchtete Ansturm auf den Brüter aber bleibt aus. Stattdessen plantschen die Demonstranten in dem Wassergraben. In den Jahren danach bleibt es nicht immer friedlich. Im Juli 1981 und Oktober 1982 kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei.
Längst kein Rückhalt mehr in der Bevölkerung
Der Widerstand aber zeigt Wirkung. In der Politik schwindet der Rückhalt für das Projekt. Vielleicht auch wegen der explodierenden Kosten. Ursprünglich sollte der Brüter 940 Millionen D-Mark kosten. Am Ende werden die Steuerzahler sieben Milliarden D-Mark zahlen müssen. Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) wirbt noch im Mai 1983 in einem Interview in der NRZ für den Brüter: „Die Erzeugung von Strom durch Kernreaktoren ist sicher und umweltfreundlich. Diese Technologie wird daher von jeder verantwortungsvollen Regierung, die die Arbeitslosigkeit in unserem Land durch Wirtschaftswachstum abbauen will und die mit dem Umweltschutz ernst machen will, befürwortet werden.“
Die für die Genehmigung zuständige Landesregierung hat er da schon nicht mehr auf seiner Seite. Im Juli 1985 spricht der eigentlich erzkonservative SPD-Landtagsfraktionsvorsitzende Fahrtmann schließlich von dem „Höllenfeuer“, das nicht in Gang gesetzt werden sollte. Er weiß: Es gibt dafür längst keinen Rückhalt mehr in der Bevölkerung. Als das flüssige Natrium bereits seit fast einem Jahr im Kühlkreislauf des Brüters zirkuliert, kommt es am 26. April 1986 nahe der ukrainischen Stadt Prypiat zum größten anzunehmenden Unfall. Reaktorblock 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodiert.
Tschernobyl ist der Sargnagel für den Schnellen Brüter
Tausende Quadratkilometer werden verseucht, Tausende Menschen sterben in Folge der Katastrophe, die radioaktive Wolke zieht bis nach Deutschland. Am 1600 Kilometer entfernten Niederrhein wird die Explosion zum letzten Sargnagel für ein ebenso ehrgeiziges wie heftig umstrittenes Projekt: den Schnellen Brüter. In der Nacht auf den 21. März 1991 informiert Riesenhuber, der Mann mit der Fliege, den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Günther Einert und Vertreter von Siemens, RWE, Preußenelektra und Bayernwerk über das endgültige Aus. Forschungsminister Heinz Riesenhuber sieht keine Chance mehr, dass der Schnelle Brüter in Kalkar ans Netz geht.
1995 kauft der Niederländer Henny van der Most die gigantische Ruine und macht daraus ein Hotel samt Vergnügungspark. Heute feiern dort Kegelclubs. Heute sorgt der Brüter für Polizeieinsätze, weil die AfD dort immer wieder Parteitage abhält. Auch sie hat sich die Gegend ausgesucht, weil sie so menschenleer ist. Trotzdem kommen Menschen, um gegen sie zu protestieren.