Duisburg. 1962 besucht Charles de Gaulle Duisburg. Er spricht vor 4000 Arbeitern der Thyssen-Hütte. Am Radio hört Kurt Walter mit – und weint vor Glück.

Diese Stimme, sie bleibt für Kurt Walter unvergessen. Damals ist er keine 20 Jahre alt, sitzt alleine zuhause in der elterlichen Wohnung vor dem Radio und hört Charles de Gaulle reden. „Sehr langsam, sehr deutlich, mit diesem typischen Akzent, wenn ein Franzose Deutsch spricht.“ Sätze und Worte fallen, die der damalige Schüler glückselig in sich aufsaugt. Vom „Frieden“, von „freien Menschen“ sowie von einer neuen „Freundschaft zwischen dem französischen und dem deutschen Volk.“ Es ist der Moment, in dem ein junger Mann aus Sterkrade seinen persönlichen Frieden findet.

„Ich habe vor Glück geweint“, erinnert Kurt Walter. Das mutet aus jetziger Sicht etwas seltsam an, stellt er rückblickend fest und lächelnd milde. Doch an jenem 6. September 1962 sieht die Welt anders aus als heute. 17 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besucht ein französischer Staatspräsident erstmals wieder nach allen Regeln des Protokolls Deutschland. Zur Begrüßung auf dem Rollfeld des Flughafens Köln-Bonn reicht Bundespräsident Lübke dem Gast de Gaulle die Hand; im Ersten Weltkrieg kämpfen beide noch auf der jeweils anderen Seite. Nun beginnt eine neue Ära in der Beziehung dieser Nachbarländer – aus Feinden werden Verbündete, Freunde.

Der Staatspräsident (Mitte) wird von Alfred Michel, Technischer Vorstand, Hans-Günther Sohl, Vorstandsvorsitzender, durch die Werkshalle geführt.
Der Staatspräsident (Mitte) wird von Alfred Michel, Technischer Vorstand, Hans-Günther Sohl, Vorstandsvorsitzender, durch die Werkshalle geführt. © Thyssen Krupp Corporate Archives, Duisburg | ATH

Die Staatsrede in einem Stahlwerk in Duisburg

Sechs Tage lang reist der Franzose durch die junge Bundesrepublik. An Tag 3 steht eine Schiffsfahrt auf dem Rhein von Köln über Düsseldorf nach Duisburg auf dem Programm, ab dem Nachmittag dann ein Besuch der August-Thyssen-Hütte in Hamborn; auf ausdrücklichen Wunsch des Staatsgastes. Ganz bewusst sucht er eine Stahlschmiede auf, in der Vergangenheit noch ein Motor der reichsdeutschen Kriegsmaschinerie. Nun ist dieses Werk ein Ort, an dem Menschen malochen, die im Alltag die Vision des Charles de Gaulle umsetzen sollen. Er blickt in jenen Tagen nicht nur zurück, sondern lieber auch nach vorne. Kurz zuvor hat er hat den Algerien-Krieg beendet, nun wirbt er an Rhein und Ruhr für die Aussöhnung zwischen den Völkern.

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Nie wieder Krieg! Für Kurt Walter war und ist das nicht bloß ein weiser Spruch. Bald wird für ihn die Schule aus sein, bald wird er den Musterungsbescheid bekommen, bald wird die Bundeswehr ihn rufen. Es herrscht kalter Krieg, der in Korea heiß lief und in Vietnam gerade heiß läuft. Aber: „Als ich de Gaulle reden hörte, wurde mir schlagartig klar: Ich werde nicht mehr gegen Frankreich kämpfen müssen.“ Tränen der Erleichterung rinnen ihm übers Gesicht. In ihm macht sich eine unglaubliche Hoffnung breit. „Ich muss kein Soldat werden!“. Nicht so wie sein Vater und sein Opa, die jeweils in einen Weltkrieg geschickt wurden, immer auch gegen Frankreich.

Die vielen Kriege gegen den Erbfeind Frankreich

Schon sein Ur-Großvater erlebt den militärischen Kampf gegen Frankreich: den Krieg von 1870 bis 1871, als der Norddeutsche Bund unter Führung von Preußen Paris erobert und in Versailles das Deutsche Reich proklamiert; der Beginn einer erbitterten Erbfeindschaft. Ob sein Ur-Opa damals ins Feld ziehen muss, weiß der Ur-Enkel nicht. Anders als sein kaisertreuer Großvater, der ab 1914 im Nachbarland kämpft, hier schwer verwundet wird und eine bleibende Fußverletzung nach sich trägt. Noch schlimmer ergeht es seinem Vater, der 1939 direkt an die Front geschickt wird – und nie mehr von dort zurückkehrt.„Meine Mutter hasste den Krieg“, erinnert Kurt Walter. Ein Gefühl, das sie ihrem Sohn eindringlich vermittelt; und das bis heute anhält.

So lässt sich erahnen, was es für ihn bedeuten muss, als Charles de Gaulle sich im nieselnden Spätsommer 62 die Herzen der Bevölkerung redet, der auf dem Marktplatz in Bonn vom „großen deutschen Volk“ schwärmt und voller Pathos ruft: „Es lebe Deutschland!“. Auf der Warmbandbreistraße bei Thyssen empfangen ihn rund 4.000 ausgewählte Arbeiter in der Fabrikhalle, sie klatschen Beifall und sind begeistert, als er „einem jeden von Ihnen den besten Erfolg in seinem Leben“ wünscht. Mit dem Ohr am Radio lauscht Kurt Walter mit. „Er klang so nah. Ich hatte das Gefühl, er steht neben mir, er spricht auch zu mir.“

Die Mutter verbietet ihrem Sohn die Bundeswehr

Kurt Walter arbeitet heute noch als Stadthistoriker und Campusgärtner an der Uni in Duisburg.
Kurt Walter arbeitet heute noch als Stadthistoriker und Campusgärtner an der Uni in Duisburg. © Ingo Plaschke | pla

Die Deutschland-Reise von Charles de Gaulle bleibt im kollektiven Gedächtnis hängen. Nicht Berlin, Hamburg und München sind die Schauplätze, überall, wo er auftritt, herrscht Volksfeststimmung. Zuletzt redet er vor dem Schloss in Ludwigsburg und wendet sich ausdrücklich an die deutsche Jugend; für ihn ist sie „die Zukunft“ eines friedlichen Europas der Vaterländer. Vier Monate später unterzeichnet er mit Bundeskanzler Adenauer im Elysee-Palast in Paris den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag; der Schlussstrich unter einer Erbfeindschaft.

Etwa zur gleichen Zeit wird Kurt Walter in einem Kreiswehrersatzamt am Niederrhein gemustert. Obwohl er während der „schlimmen Untersuchung“ ohnmächtig zusammenklappt, wird er für tauglich befunden und soll seinen Dienst bei der Luftwaffe im niederländischen Budel leisten. Als aber der Einberufungsbefehl kommt, nimmt die Mutter den Brief und sagt: „Kurt, das verbiete ich Dir!“ Dann geht sie zum Rathaus, lässt von dort aus bei der Bundeswehr anrufen. „Am nächsten Tag bekam ich wieder Post von der Bundeswehr“, erzählt ihr Sohn. Der Bescheid über seine Einberufung ist zurückgenommen.