Mülheim an der Ruhr. Vor über 40 Jahren gründeten Roberto Ciulli und Helmut Schäfer das Theater an der Ruhr. Das Ensemble zog in ein marodes, aber idyllisches Kurhaus.
Alles begann 1975 auf einer Heizung während einer Premierenfeier in der Wohnung von Hansgünther Heyme, des späteren Leiters der Recklinghauser Ruhrfestspiele, mit einem Gespräch zweier junger Männer über Hegel. Roberto Ciulli war in Köln Schauspieldirektor und designierter Intendant. Helmut Schäfer begann gerade als Dramaturg am Kölner Theater Fuß zu fassen. Sie waren zwei Bürgersöhne aus wohlhabenden Verhältnissen mit einem Faible für Philosophie und einem Interesse am gesellschaftlichen Wandel mit Blick auf die Arbeiterschaft.
Schon in Mailand hatte Ciulli mit dem „Il Globo“ ein Theater gegründet und war in einem Zirkuszelt durch die Quartiere am Mailänder Stadtrand getourt. In Köln ging er zur Stadtteilarbeit nach Chorweiler. Das Treffen auf der Heizung war ein Einschnitt. „Bis dahin war meine Arbeit von Isolation geprägt. Mit Helmut begann der Dialog. Dieser Dialog war die Voraussetzung für das Verständnis des Theaters als einer autonomen Kunst“, erinnert sich der heute 86-jährige Ciulli in seiner Autobiographie „Der fremde Blick“.
Die Premiere in Mülheim fiel beim Publikum durch
Gemeinsam beackerten sie dann die deutsche Theaterliteratur, was einigen missfiel. Sie rieten Ciulli, lieber bei italienischen Stoffen zu bleiben, was dieser anmaßend und verletzend fand. Dass der etwa gleich alte Heyme 2013 die Laudatio hielt, als Ciulli mit dem Staatspreis NRW ausgezeichnet wurde, war nicht nur in dieser Patenschaft begründet. Heyme und Ciulli blieben über Jahrzehnte eng verbunden. Ciulli war nach Pina Bausch der zweite Theatermacher, der mit diesem höchsten Landespreis ausgezeichnet wurde.
Die avantgardistische Choreographin war wichtige eine Inspirationsquelle für Ciullis Arbeit und an freien Abenden pilgerte das Ensemble nach Wuppertal. Später zitierte er eine Szene aus ihrem legendären „Café Müller“. Für die erste Mülheimer Premiere lieh sich das Theater von dort Mechthild Großmann als eine von drei Lulus aus. Die Premiere in Mülheim fiel beim Publikum durch, die Kritik war zwiespältig. Aber auch bei Bausch verließ das Publikum scharenweise den Saal. Beide waren ihrer Zeit voraus. Bis zur Anerkennung war es noch ein langer Weg.
Mülheimer Kulturdezernent hob im richtigen Moment die Hand
An die Gründung eines Theaters der neuen Art war damals noch nicht zu denken, an Mülheim erst recht nicht. Aber ein Kern der Ciulli-Familie hatte sich schon formiert: Volker Roos und Reinhard Firchow gehörten gemeinsam mit dem Bühnenbildner und dem Meister der Reduktion, Graf Edzard Habben, 50 Jahre dazu. Das Mülheimer Ensemble ist wie ein Organismus, eine verschworene Gemeinschaft. Wer im Laufe der Jahre kam, blieb für Jahrzehnte.
Eine Idee gewann in Köln Kontur, Düsseldorf wurde dann zum Laboratorium. Aber es gab noch keinen Ort. Den fand der energisch und strategisch vorgehende Mülheimer Kulturdezernenten Helmut Meyer, der auch mit dem Stücke-Festival der deutschen Gegenwartsdramatik dafür sorgte, dass die Stadt an der Ruhr in der Theaterlandschaft kein weißer Fleck mehr blieb. Er hob im richtigen Moment im Kreise der Kulturdezernenten im Ruhrgebiet die Hand. Er wusste, dass er strategisch vorgehen musste, denn die SPD in Mülheim war konservativ und kleinkariert.
Theater-Truppe reiste in rund 50 Länder
Ein reisendes Ensemble sollte es sein, das die Kultur in die Provinz und in alle Welt trägt. In rund 50 Länder ist die Truppe gereist und hat Ensembles aus ebenso vielen Ländern am Raffelberg geholt. Das Autobahnschild als Logo kommt nicht von ungefähr. Dass der Abbiegepfeil nach links zeigt, ist ein klarstellende Irritation. Dem Volkstheater wolle man sich widmen, was wohl zu Missverständnissen führte, weil einige eher an Kabel und Millowitsch statt an Horvath, Nestroy und Kroetz dachten.
Ein junger Gymnasiast, der bei einem Gastspiel in Siegen durch eine Aufführung ein künstlerisches Erweckungserlebnis hatte, war der heute vielfach ausgezeichnete Essayist Navid Kermani. Er schwänzte den Unterricht, schlich sich in den Unterricht in der Oberstufe, wo er mit Ciulli diskutierte. Was er auf der Bühne gesehen hatte, verstand er zwar kaum, aber die Irritation regte seinen Geist an. 1988 kam er als Jahrespraktikant an den Raffelberg und schwärmt noch heute davon, wie bereichernd er diese Zeit empfand.
1911 errichtetes Kurhaus sollte Zuhause des Theaters werden
Das inzwischen gefundene Refugium ist ein magischer Ort, der kreative Kraft weckt. Er begeistert heute die Ensemblemitglieder ebenso wie das Publikum und die Gäste aus dem In- und Ausland, die dort arbeiten. „Unter hohen Kastanien ein Fleck der Ruhe im Park: So viel Ruhe das Ambiente auch ausstrahlt, hier hat ein Theater seinen Sitz, von dem alles andere als Ruhe und Beschaulichkeit ausgeht. Kaum eine andere Truppe hat in den vergangenen zehn Monaten soviel Unruhe, geistige Anregungen und Aufregungen verursacht wie die des Ruhr-Theaters“, schwärmte ein Kritiker.
1980 wurde in Mülheim das Theater an der Ruhr gegründet
Als ehemaliges Kurhaus eignet es sich zum Theater und die Mauern atmen einen Geist, der Assoziationen an eine vergangene Epoche weckt. Diente das Kurbad der körperlichen Regeneration der Arbeiterschaft, so belebte das Theater den Geist. Das 1911 errichtet Kurhaus mit einem 800 Plätze fassenden Saal mit Konzertmuschel für das sonntägliche Tanzvergnügen war in einem desolaten Zustand, wie sich Ciulli an den ersten Besuch erinnerte. „Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen - um nicht zu sagen, ich war verzweifelt und mir nicht sicher, ob dies der richtige Ort für uns sein sollte.“
Kondenswasser gab dem maroden Gebäude den Rest
Auch interessant
Meyer habe ihn nach der Besichtigung auf einen Espresso in das benachbarte Restaurant Mama Rosa eingeladen. Der Zufall, der im Leben Ciullis und seiner Arbeit von so großer Bedeutung ist, gab auch hier den Fingerzeig. „Ein italienisches Restaurant, geführt von einem sizilianischen Landsmann am Ort unserer Arbeit schien mir ein gutes Omen für unser Unternehmen.“ So wurden Ciulli und Piero Gradino Freunde und das Lokal etablierte sich zu einem zentralen Ort der Begegnung, wo das Ensemble nach den Proben die künstlerische Auseinandersetzung fortsetzte und seine Premieren feierte.
Die großen Aufführungen gingen in der Stadthalle über die Bühne, kleinere Produktionen wurden schon damals am Raffelberg gezeigt. „Wir hatten uns eine preiswerte Zuschauertribüne vom Düsseldorfer Schauspielhaus besorgt und einfach behauptet, dass das alte Solbad jetzt ein Theater sei“, erinnert sich Schäfer.. „Als wir 1987 Sartres „Tote ohne Begräbnis“ mit 14.000 Liter Wasser in einem Bassin auf der Bühne inszeniert haben, hat das dem sowieso schon maroden Gebäude den Rest gegeben“, erzählt Schäfer.
Von 1994 bis 1997 wurde saniert
Morgens sei das Kondenswasser an den Türen runtergelaufen, denn das Wasser musste auf 28 Grad erwärmt werden, damit die Schauspieler, die Neoprenanzüge trugen, darin spielen konnten. Mit dieser Inszenierung wurde die Truppe zum Berliner Theatertreffen eingeladen und im Folgejahr wurden die Truppe in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zum Theater des Jahres gekürt. Nach dem Krieg war nur notdürftig das Dach repariert worden. Das Gebäude blieb leer.
Bis zur Sanierung des Hauses (1994-97) war es ein mühsamer Weg. Erst bei der Sanierung zeigte sich, dass es statische Probleme gab und das Foyer, unter dem sich die Werkstätten befinden, einzustürzen drohte. Aber auch das Gelände hat das Ensemble längst als Spielort entdeckt. 15 Mal wurde bereits das Haus und der Park bei den „Weißen Nächten“ in effektvollen Farben illuminiert. Musik, Theater und Begegnungen paaren sich zum spannenden Spektakel, das ganz andere Menschen als sonst zum Nulltarif an den Raffelberg lockt und begeistert. Ein Klassiker sind da längst Ciullis anekdotenreiche Theaterführungen. Doch die Natur lässt sich vom Regisseur kaum bändigen. Schon häufiger musste das Publikum bei Regen ausharren. Die Begeisterung mindert das kaum.
Robert Ciulli kam in den 1970er-Jahren nach Deutschland
Auch interessant
Roberto Ciulli ist 1934 in Mailand geboren. Anfang der 60er Jahre gründete er das Theater „Il Globo“. Mit 29 erlitt er einen Herzinfarkt. Nach der Genesung ging er nach Paris, lernte dort eine junge Frau kennen der er nach Göttingen folgte. Dort war er zunächst als Lkw-Fahrer und Fließbandarbeiter bei Bosch tätig. Dann begann er am Deutschen Theater als Requisiteur und Beleuchter. Schon bald führte er Regie. Steffen Tost hat 20 Jahre lang für die NRZ über das Theater an der Ruhr berichtet und die Truppe 2013 bei einer Reise nach Algerien begleitet.