Essen. Im Gespräch mit der NRZ erinnert sich Peter Heinemann an den 5. März 1969. An diesem Tag wurde sein Vater Gustav zum Bundespräsidenten gewählt.

Es ist im Advent, als der Besucher von der NRZ an der Tür des gepflegten Hauses im grünen Essener Stadtteil Heisingen oberhalb der Ruhr läutet. Peter Heinemann öffnet die Tür, freut sich über das mitgebrachte Geschenk: einen Terminkalender für das Jahr 2021. Ob er weiß, dass NRZ-Gründer Dietrich Oppenberg seinem Vater, dem Bundespräsidenten aus Essen, jedes Jahr einen solchen Terminplaner nach Hause, auch in die Villa Hammerschmidt, schickte.

Peter Heinemann erinnert sich.
Peter Heinemann erinnert sich. © Andreas Buck / FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Einen Dankesbrief hat der Zeitungsherausgeber aufbewahrt. „Der Kalender, der mir Jahr für Jahr zugesendet wird, ist mir ein wichtiges Hilfsmittel bei meiner täglichen Arbeit“, schrieb das Staatsoberhaupt freundlich. Man kannte sich, und man schätzte sich.

Auch Peter Heinemann, renommierter Rechtsanwalt und selbst zwei Legislaturperioden für die SPD im Landtag, kannte Dietrich Oppenberg gut. Im Streit mit der WAZ hatte er den NRZ-Herausgeber vor Gerichten vertreten. Nach der Übernahme der Mehrheitsanteile Mitte der 70er Jahre wollten die forschen Geschäftsführer der Mediengruppe dem Gründer das zuvor verbriefte Recht nehmen, den Chefredakteur der NRZ selber zu bestimmen. Oppenberg und sein Anwalt klagten bis in die höchste Instanz – und siegten. Nach dem Tod von Dietrich Oppenberg ging dieses Privileg an seinen Nachfolger, Herausgeber Heinrich Meyer, über – und es dauert bis heute an.

5. März 1969: Der Tag der Bundespräsidentenwahl

Mit Peter Heinemann wollen wir über den historischen Tag sprechen, der der bundesdeutschen Geschichte eine neue Wendung gab. Am 5. März 1969 wurde Gustav Heinemann als Kandidat der SPD von der Bundesversammlung in Berlin im dritten Wahlgang mit der hauchdünnen Mehrheit von 512 zu 506 bei fünf Enthaltungen zum 3. Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

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Die entscheidenden Stimmen kamen von der FDP. Das öffnete den Weg in die erste sozialliberale Koalition. Nach der Bundestagswahl im September 1969 wurde Willy Brandt Bundeskanzler und Walter Scheel von der FDP sein Außenminister. Die Nachkriegsära mit der Dominanz der CDU war gebrochen.

Peter Heinemann, Jahrgang 1936, erinnert sich noch gut an den Tag der Bundespräsidentenwahl. Zusammen mit seinem Vater und seiner Mutter war er nach Berlin gereist. Die Anspannung war riesengroß. „Bis zuletzt war nicht klar, ob es klappen würde“, sagt er. Im zweiten Wahlgang bekam Gustav Heinemann sogar drei Stimmen weniger als im ersten Durchgang, lag nur noch vier Stimmen vor dem Gegenkandidaten von der CDU, dem ehemaligen Außenminister Gerhard Schröder, der auch mal politische Kolumnen für die NRZ geschrieben hat.

Heinemann vertrat den „Spiegel“ gegen Franz Josef Strauß

Gustav Heinemann war da schon 69 Jahre alt. Nach dem Krieg hatte der promovierte Jurist und überzeugte Protestant zusammen mit katholischen Politikern die neue überkonfessionelle Partei CDU gegründet. Er wurde der erste gewählte Oberbürgermeister der zerstörten Krupp-Stadt Essen, dann Justizminister in NRW (1947/48) und Bundesinnenminister im ersten Kabinett von Konrad Adenauer (1949/50).

Im Streit um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik legte Heinemann sein Ministeramt nieder, kehrte der CDU den Rücken und gründete die „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“, aus der dann die „Gesamtdeutsche Volkspartei“ wurde, der auch Johannes Rau, später langjähriger Ministerpräsident in NRW und dann auch Bundespräsident, angehörte.

Heinemann arbeitete zunächst wieder als Rechtsanwalt, vertrat in der „Spiegel-Affäre“ das Nachrichtenmagazin gegen Franz Josef Strauß und wechselte 1957 zur SPD. Von 1966 bis 1969 war er Bundesjustizminister in der Großen Koalition.„Meinem Vater ist es nie um Ämter, sondern nur um Ziele gegangen“, sagt Peter Heinemann.

Unterstützung für die Familie von Rudi Dutschke

Ende der 60er Jahre waren Teile der Studenten in Aufruhr. Gustav Heinemann, obschon auf die 70 zugehend, zeigte Verständnis. Er erinnerte als Minister die Elterngeneration an ihre Versäumnisse, mahnte die Studenten aber auch, sich an das Grundgesetz zu halten, der Gewalt abzuschwören, die Diskussion zu suchen und um demokratische Mehrheiten zu werben.

„Er hat es als seine Aufgabe gesehen, die Jugend an den Staat zurückzuführen“, beschreibt es sein Sohn. Als Studentenführer Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt wurde, unterstützte der Bundespräsident ihn und seine Familie abseits der Öffentlichkeit mit 3000 Mark von seinem privaten Konto.

Peter Heinemann: „Mein Vater war kein Jubler“

„Bist Du aufgeregt“, hat Peter Heinemann seinen Vater nach dem knappen zweiten Wahlgang in Berlin am 5. März 1969 gefragt. Der hat nur den Kopf geschüttelt. Und auch nach dem gewonnenen dritten Wahlgang hielten sich die Gefühlsausbrüche des Protestanten in Grenzen. „Mein Vater war kein Jubler“, sagt der Sohn und erinnert sich noch an die Enttäuschung mancher führender Sozialdemokraten, als Heinemann die Siegesfeier am Abend kurzerhand zu einer Podiumsdiskussion über die politische Situation Berlins umwandelte.

Ein „Bürgerpräsident“ wollte Gustav Heinemann sein, und das wurde er auch. Mit staatlichem Pomp konnte er wenig anfangen. „Ich liebe nicht den Staat, ich liebe meine Frau“, hat er gesagt. Zu seinen Empfängen lädt er auch Krankenschwestern, Bauarbeiter und Müllwerker ein. Und als er nach fünf Jahren darauf verzichtet, für eine sichere zweite Amtszeit zu kandidieren, verlegt er die offizielle Abschiedsfeier kurzerhand auf ein Rheinschiff. Da kann die Bundeswehr nicht den vom Protokoll geforderten großen Zapfenstreich spielen.

Heinemann: Religion und Militär passen nicht zusammen

Religion und Militär haben für Heinemann nie zusammengepasst. „Helm ab zum Gebet!“ – diesen Befehl mochte er nicht hören. Mit Familie, mit Weggefährten und Freunden auf dem Rhein fühlte er sich wohler. NRZ-Herausgeber Dietrich Oppenberg gehörte dazu.

Am 7. Juli 1976 starb Gustav Heinemann in Essen im Alter von 76 Jahren. Seinen Sohn Peter hat er nachhaltig geprägt. Auch er ist promovierter Jurist, war aktiv in der Evangelischen Kirche, war Politiker, Landtagsabgeordneter und SPD-Chef in Essen. Zu alldem hat ihn der Vater nicht gedrängt. Aber in die Wiege wird einem sowas irgendwie wohl doch gelegt. Peter Heinemann sagt es dankbar: „Mein Vater war für mich ein strahlendes Vorbild an Lauterkeit und Ehrlichkeit.“