Im Januar 1955 streiken mehr als 820.000 Bergmänner und Stahlkocher. Sie kämpfen für die Mitbestimmung. Das Revier steht still, 24 Stunden lang.
Wie der Vater, so der Sohn. Als Hermann Reusch in winterliche Kälte über die betriebliche Mitbestimmung von Arbeitern in der Montanindustrie ätzt und dabei über eine „Erpressung“ schimpft, fühlen sich nicht wenige Beobachter an dessen Vater Paul Reusch erinnert. Die Pflege der familiären Tradition macht die Sache nicht besser, im Gegenteil. Am 22. Januar 1955 legen mehr als 820.00 Bergmänner und Stahlkocher im Ruhrgebiet die Arbeit nieder. „Fast eine Million Arbeiter streiken“, titelt die NRZ. Aus heutiger Sicht, da es bei einem Ausstand meist nur noch ums Geld geht, mutet dieser Protest beinahe revolutionär an.
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Es sind andere Zeiten, damals. Deutschland steht gerade aus den Trümmern des Dritten Reiches auf, die Wirtschaft beginnt wieder zu blühen, Aufbruchstimmung macht sich auch unter den Arbeitern breit: endlich in Betrieben und Unternehmen mehr mitzubestimmen. Eine hart umkämpfte Forderung, die 1920 im ersten Betriebsrätegesetz in der Weimarer Republik auf Papier festgeschrieben, von den Nazis 1934 außer Kraft gesetzt und bei der Gründung der Montanunion wiederaufgenommen und umgesetzt wird.
Dr. Karl Hermann Reusch – der Typ eines Managers
Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaues und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie, das vom deutschen Bundestag am 10. April 1951 verabschiedet und keine zwei Monate gültig wird, gilt als „ein Meilenstein in der Geschichte der Mitbestimmung“, heißt es in der allgemeinen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. Wer an den paritätisch besetzen Aufsichtsräten rüttelt, muss mit massiven Widerstand der organisierten Arbeiter rechnen; bis heute.
Hermann Reusch aber ist ein Mann, dem dieses Gesetz überhaupt nicht ins Weltbild passt. Kurt Pritzkoleit, Autor des Buches „Männer, Mächte, Monopole“ erklärt dies mit dem „schwäbischen Temperament“ des Wirtschaftsbosses, die „der Behandlung von Fragen, die das Recht des Herren im eigenen Haus angehen, keinerlei Kompromiß, nicht einmal den Anschein einer Kompromißlösung duldet“. Das Zitat steht in einer kleinen Serie über „Dr. Hermann Reusch“, mit der die NRZ den Arbeitskampf anno 1955 begleitet. Eine aufklärerische Reihe über den „Typ des Managers“, die sich rückblickend betrachtet sehr meinungsstark liest.
Ist es ein politischer Streik, also rechtswidrig?
Der Feind in Person des Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte in Oberhausen wird auf der Straße ausgemacht. Die Streikenden fahren an jenem Samstag – ein ganz normaler Werktag, übrigens – mit Lastwagen durch die Straße, auf denen Schilder mit Parolen angebracht sind. Zum Beispiel mit: „Antwort auf Reusch“. 24 Stunden lang geht nichts mehr im Revier, die Räder der Fördertürme stehen still. Die Deutsche Angestelltengewerkschaft schließt sich dem Protestaufruf von IG Bergbau und IG Metall an, der Deutsche Gewerkschaftsbund freut sich über „die Geschlossenheit der Arbeitnehmer“.
Sehr zum Ärger der Bundesregierung in Bonn. Nach Bekanntwerden des Streikbeschlusses, drei Tage zuvor, kommt das Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen und warnt vor, „allgemeinen Streikmaßnahmen gegen Äußerungen einzelner.“ Auch die Arbeitgeberverbände lehnen die Aktion, wenig überraschend, geschlossen ab. Das Deutsche Industrie-Institut spricht sogar von einem politisch motivierten Streik und nennt diesen deshalb „rechtswidrig“. Zwei Tage vor dem Ausstand wird die Idee laut, Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) soll vermitteln – macht er aber nicht. Stattdessen heizt Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Strauß (CSU) den Streit an, wirft den Gewerkschaften vor, „sich auf die Seite von Moskau“ zu schlagen. Kalter Krieg der Worte.
Die Kumpel verzichten auf einen Tageslohn: 17 bis 18 Mark
Entfacht von Karl Hermann Reusch, der 1947 die Leitung des Montan- und Maschinenbau-Unternehmens GHH mit Sitz in Oberhausen übernimmt. Damit folgt er sozusagen Paul Hermann Reusch, der den Konzern im Besitz der Familie Haniel aus Ruhrort bis 1942 führt. Wie bereits gesagt, der Sohn tritt in die Fußstapfen des Vaters, auch verbal. Auf der Hauptversammlung der Aktionäre der Gutehoffnungshütte feuert er gegen die Mitbestimmung von Arbeitnehmern, die in der Montanunion gilt und in Deutschland auch im Betriebsverfassungsgesetz von 1952 verankert ist. Diese sei in einer Zeit durchgesetzt worden, als die Staatsgewalt noch nicht gefestigt gewesen ist.
Starke Worte eines starken Mannes, die starke Auswirkungen haben. Rund 280.000 Tonne Kohle, 60.000 Tonnen Stahl und 40.000 Tonnen Eisen weniger, lautet eine Bilanz des Streiktages. Von einer anderen ist in der NRZ zu lesen: „Kumpels opfern einen Tageslohn." In nackten Zahlen ausgedrückt heißt das für einen Bergmann: „17 bis 18 Mark weniger haben." Viel Geld. „Das ist uns egal. Das muß man verschmerzen können“, diktiert ein Arbeiter dem NRZ-Chefreporter Kurt Gehrmann in den Block. „Dieser Streik ist mehr wie recht“, betont ein anderer. „Damals, kurz nach dem Kriege, als wir für eine schnitte Brot arbeiten mußten, da haben sie uns die Mitbestimmung versprochen. Warum wollen sie sie uns heute wieder nehmen?“
In der sozialliberalen Ära wird die Mitbestimmung erweitert
Die Mitbestimmung bleibt – und wird vergrößert. 1972 erneuert die sozialliberale Bundesregierung von SPD und FDP das Betriebsverfassungsgesetz mit erweiterten Unterrichtungs- und Anhörungsrechten für einen Betriebsrat, 1976 beschließt der Bundestag das Mitbestimmungsrecht für alle Kapitalgesellschaften mit mehr als 2.000 Beschäftigten außerhalb der Montanindustrie. Hermann Reusch ist da schon tot, er stirbt im Dezember 1971 auf dem Katharinenhof, einem Jagdschloss bei Backnang.