Essen. Der Essener Helmut Rahn hat Deutschland 1954 zum Fußball-Weltmeister gemacht. Kurz vor der WM hatte der Held ein Angebot aus Argentinien.
Es gibt Zahlen und Namen, die sind schlicht unvergessen. 54, 3:2 und Rahn, das ist eine solch aussagekräftige Kombination. Diese vier Zahlen und vier Buchstaben stehen für ein beträchtliches Stück deutscher Fußball-Geschichte. Ein Essener Dribbler der draufgängerischen Art, für den der Ball flapsig nur „die Kirsche“ hieß und bei dessen Kanonenschüssen sich ein Torhüter nie gern an seinem Arbeitsplatz aufhielt, machte mit seinem Siegtor im WM-Finale am 4. Juli 1954 in Bern eine ganze Nation glücklich.
Neun Jahre nach Ende des von Deutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieges bedeutete Helmut Rahns Flachschuss von Wankdorf in die linke ungarische Torecke viel, viel mehr als nur der finale Turniertreffer. Das Tor ging über die Magie eines Seelentrösters nach dunklen Jahren hinaus. Das 3:2, der Titel, die große Aufmerksamkeit durch erstmalige Fernseh-Live-Übertragungen waren vor allem auch ein Aufbruchssignal für moderne Zeiten. Der Absatz von TV-Geräten steigerte sich in Deutschland zügig von knapp 40.000 während der WM 1954 auf mehrere Millionen.
Den „Rahnsinn“ vor fast 67 Jahren, der sich auch in der Torvorlage zum 1:2 durch den Nürnberger Max Morlock und im selbst erzielten 2:2 manifestierte, verfolgten die Deutschen vor allem gebannt am Radio. Der legendäre, damals eher verpönte Freudenausbruch von Reporter Herbert Zimmermann („Rahn müsste schießen – Rahn schießt – Tor, Tor, Tor, Tor“) ist schriftlich an den Essener Brücken über der Ruhrpott-Autobahn 40 verewigt.
Helmut und Rahn trifft im Berner Wankdorf-Stadion zum Sieg
Im Frühsommer 1954 waren die Gaststätten und Kneipen, die sich einen Fernseher geleistet hatten, voll von Menschen, die lange Jahre nicht mehr eine so enthusiastische Freude empfunden hatten. Man drängelte sich vor den Schaufenstern der großen Kaufhäuser – wo die neuen Schwarz-Weiß-Bildschirme ebenfalls mit Live-Bildern aus dem Wankdorf-Stadion flimmerten. Schon das 2:0 im Viertelfinale gegen Jugoslawien zuvor und das famose 6:1 über damals exzellente Österreicher in der Vorschlussrunde waren regelrechte Straßenfeger.
Dabei hätte die legendäre 54er-WM auch ganz anders verlaufen können. Nämlich ohne Helmut Rahn. Der befand sich mit Rot-Weiß Essen noch wenige Wochen vor dem Start der Vorbereitung der Nationalmannschaft auf großer Südamerika-Tournee. 16 Freundschaftsspiele inklusive.
Der DFB-Pokalsieger von 1953 kickte neun Wochen lang in Uruguay, Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien, in den USA und auch in Argentinien. Spitzenteam Racing Club Buenos Aires wollte Rahn gleich am Rio de la Plata heimisch machen. 150.000 Mark für vier Spielzeiten bot der noble Klub.
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Rahn flog jedoch von Bolivien, etwa zur Hälfte der RWE-Tournee, wie verabredet nach München in die Sportschule Grünwald. „Ich habe Sepp Herberger direkt zum Start der WM-Vorbereitung damals vom Angebot erzählt“, berichtet Helmut Rahn in einem WDR-Fernsehinterview aus dem Jahr 1979, „doch der Trainer hat nur gesagt: ,Was willst Du denn da unten? Du wirst in Deutschland auch Deine Karriere machen.‘ Damit war das Thema schnell erledigt.“
Auf die Sportfreunde Katernberg folgte Rot-Weiß Essen
Dazu muss man wissen: In Buenos Aires hätte Rahn rund 3000 Mark im Monat verdient. Bei Rot-Weiss Essen gab es den damaligen Höchstsatz von 320 Mark. Der Außenstürmer mit der linken Klebe ließ also eine Stange Geld liegen. Aber ob Ruhrpott-Original Rahn tatsächlich in die Tango-Metropole gepasst hätte? Der gebürtige Bergmannssohn hatte Elektriker gelernt, liebte Fußball und das Bier danach, vergaß nie seine Essener Herkunft, wohnte bis zuletzt im Reihenhaus, beehrte oft seine Stammkneipe Friesenstube und den VfB Frohnhausen an der Raumerstraße - beides in Laufweite.
Nach einer starken Oberliga-Saison bei den Sportfreunden Katernberg ging es 1951 für acht Saisons zu Rot-Weiss Essen. Der damalige RWE-Chef Georg Melches war schneller als der ebenfalls brennend an Rahn interessierte Fritz Szepan von Schalke 04. Melches verschaffte dem damals 21-jährigen Rahn eine Arbeitsstelle und einen Dienstwagen, verdoppelte das Monatssalär auf die schon erwähnten 320 Mark.
Das zahlte sich aus. Der DFB-Pokalsieg 1953 und die Deutsche Meisterschaft 1955 beim 4:3 über den 1. FC Kaiserslautern in Hannover bleiben auch sieben Jahrzehnte nach Rahns RWE-Zeit die größten Erfolge des Vereins. Rahns Bronzestatue am Stadion an der Hafenstraße würdigt die goldenen Fünfziger des SC Rot-Weiss.
Fußballer Helmut Rahn bleibt einer der bekanntesten Essener
Helmut Rahn, nach seinem Tod am 14. August 2003 kurz vor seinem 74. Geburtstag auf dem Margarethenfriedhof in Holsterhausen beerdigt, ist und bleibt einer der bekanntesten Söhne Essens. Daran ändern auch Ausflüge zur Konkurrenz nichts. Mit dem 1. FC Köln stand er noch 1960 im Endspiel um die Deutsche Fußballmeisterschaft, verlor aber 2:3 gegen den Hamburger SV. Mit dem Meidericher SV holte er in der ersten Bundesliga-Saison 1963/64 die Vizemeisterschaft. Kassierte bei den Zebras aber auch die erste Rote Karte der Liga-Historie: Kopfstoß gegen den Herthaner Harald Beyer.
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Bundestrainer Sepp Herberger nannte seinen Angreifer gern „einen Meister der positiven Improvisation“. Auf dem Fußballplatz war Rahn ein wuchtiger, explosiver Dribbler mit Instinkt. „Der Gegner wusste nie, was der Boss macht. Wir manchmal aber auch nicht“, erinnert sich unter anderem sein einstiger WM-Kollege Horst Eckel aus Kaiserslautern.
Beim Turnier in der Schweiz 1954 teilte sich Helmut Rahn das Zimmer im schmucken Belvedere Hotel am Thunersee in Spiez mit Kapitän Fritz Walter. Der legte beim Bundestrainer stets ein gutes Wort für Rahn ein. Dessen Späße und Undiszipliniertheiten gefielen dem korrekten Herberger zumeist nicht. Auf dem Platz zahlte Rahn aber für etwaige Defizite zurück. Das wusste Herberger. Der stellte Rahn trotz Zweifel auch im Finale auf. Ein- und Auswechslungen waren 1954 noch nicht erlaubt. Herbergers vortrefflicher Riecher mündete in den berühmtesten Linksschuss der deutschen Fußballgeschichte. 54, 3:2, Rahn – vier Zahlen, vier Buchstaben, sie bleiben unvergessen.
Das Wunder von Bern