Duisburg. 3. Juli 1976: Die vierjährige Marion K. wird in Duisburg ermordet. Es ist die letzte Tat von Joachim Kroll. Danach verhört ihn Bernd Jägers.

Die Kinder in der Nachbarschaft in Laar nennen ihn „den lieben Onkel Achim“. Ein kleiner, dünner Mann mit Halbglatze und Segelohren, der mitleiderregend sein rechtes Bein nachzieht.

Mitleid fühlt Bernd Jägers nicht, als er Joachim Georg Kroll im Juli 1976 verhört. In einem Büro im dritten Stock des Polizeipräsidiums in Duisburg. An einem, wie schon seit Wochen, bildschönen Sommertag.

Da also sitzt „ein unscheinbares Männeken, knapp über 1,60 Meter“, erinnert er, „schmächtig, aber unglaublich kräftig.“ Soll dieser Typ tatsächlich der „Ruhr-Kannibale“ und der „Menschenfresser aus Duisburg“ sein, wie ihn die Zeitung mit den vier großen Buchstaben später betiteln wird.

Der Kriminalobermeister will seinen Augen und Ohren nicht trauen. Die Gestalt des Mannes, der sich auf der anderen Seite seines Schreibtisches auf dem Stuhl duckt, passt so gar nicht zu dem, was er vor Stunden in dessen Bude ansehen musste.

Bernd Jägers war Leiter des Vernehmungsteams, das den mutmaßlichen Täter verhörte. Nach 44 Dienstjahren ging 2013 in den Ruhestand.
Bernd Jägers war Leiter des Vernehmungsteams, das den mutmaßlichen Täter verhörte. Nach 44 Dienstjahren ging 2013 in den Ruhestand. © WAZ Foto Pool | Michael Dahlke

Tatort Duisburg-Laar: eine Kühltruhe voller Menschenfleisch

Die Dachgeschosswohnung in der Friesenstraße 11 ist ein Ort des unfassbaren Grauens. Hinter der Fassade der Mietskaserne wird ein menschlicher Abgrund sichtbar, von dem man sonst nur in unappetitlichen Krimis liest. In der Tiefkühltruhe lagern die zerstückelten Überreste von Marion K. Einem vierjährigen Mädchen von nebenan. Menschenfleisch ist in durchsichtigen Plastiktüten abgepackt, Stück für Stück. Auf dem Herd steht ein Suppentopf, darin eine Brühe – und eine Hand des Opfers, mehrere Bissspuren sind deutlich zu erkennen.

„Zum Glück wusste ich, was mich dort erwartet“, erzählt Bernd Jägers. Von seinen Kollegen vorab informiert, betritt er den Tatort. Er ist damals 27 Jahre alt, verheiratet, Vater eines Sohnes, der sieben Jahre alt ist, also bloß wenig älter als die Tote. Aber, der Polizist ist bereits zu jener Zeit mit einer Fähigkeit ausgestattet, die ein Mitglied des Mordkommissariats vielleicht besitzen muss. „Wenn ich meinen Dienst antrete, lege ich im Kopf einen Schalter um. Genauso mache ich es nach Feierabend.“ Auch diese Gabe ließ ihn seinen Job mehr als vier Jahrzehnte lang ausüben.

Motivsuche: Warum bringt Joachim Kroll Menschen um?

Mit den Bildern des bestialischen Verbrechens im Kopf hockt Bernd Jägers als einer von zwei Vernehmungsbeamten mit Joachim Kroll zusammen. „Ich spürte keinen Hass. Ich wollte wissen, was er getan hat, und warum.“ Doch der 43-jährige Mann, der ihm zum Verhör gegenübersitzt, redet zunächst weniger, als dem Beamten lieb ist. „Er war ein verstockter Typ, der sich innerlich abgeschottet hat.“ Anfangs gibt der Verdächtige „mit leiser Stimme“ nur zu, was offensichtlich scheint: den Mord an der kleinen Marion. Wie er sie in seine Mansarde lockt, wie er sie vergewaltigen will, wie sie schreit und sich wehrt. Wie er panisch wird, wie er sie erwürgt. Und wie er danach „wissen wollte, wie ein Mensch von innen aussieht und schmeckt.“ Geständnis genug, eigentlich. Bernd Jägers bohrt weiter, auf seine Art.

„Mein Instinkt“, sagt er. Er spürt, dass „das Hutzelmännchen“ noch viel mehr zu beichten hat. Ungeklärte Mordfälle gibt es leider genug. Drei Monate lang sitzt der Leiter des Vernehmungsteams ihm gegenüber, Tag für Tag versuchen er und seine Kollegen herauszufinden, was Joachim Kroll noch alles verbrochen hat. Trotz der schaurigen Taten, um die es hier geht, sieht Bernd Jägers auf der anderen Seite „einen Menschen“ sitzen, „kein Monster“.

Noch eine nachgestellte Mordszene: Joachim Kroll demonstriert der Polizei einer seiner Mordtaten am Tatort.
Noch eine nachgestellte Mordszene: Joachim Kroll demonstriert der Polizei einer seiner Mordtaten am Tatort. © Repro: Michael Dahlke | Polizei Duisburg

Taktik: Reibekuchen und Bienenstich für den Mörder

„Wir quatschten über sein Mofa, das nicht richtig lief. Es war sein Hobby. Plötzlich merkte er, dass sich jemand für ihn interessiert.“ Weil Reibekuchen sein Leibgericht sei, brät er ihm dieses; serviert auch mal Bienenstich. Als die Boulevardpresse davon erfährt, serviert die das ihrer Leserschaft. Irgendwann nennt Jägers Kroll „Achim“, man ist per Du, später knobeln sie miteinander. „Ich wollte eine Gesprächsbasis schaffen“, erklärt Bernd Jägers, „sein Vertrauen gewinnen.“Außenseiter: Frauen verspotten den Mann.

Denn Joachim Kroll, 1933 im oberschlesischen Hindenburg geboren, als letztes von acht Kindern eines Bergmannes, ist wohl schon sein ganzes Leben lang ein Sonderling. Als Jugendlicher vergeht er sich an geschlachteten Tieren, erfährt die Öffentlichkeit hinterher. Mit dem Vater zieht er ins Ruhrgebiet, lebt allein im Ledigenheim in Huckingen, arbeitet als Toilettenreiniger bei Mannesmann, zur Zeit seiner Festnahme als Waschkauenwärter auf der August-Thyssen-Hütte in Bruckhausen.

Nun – so viel Interesse an seiner Person bringt Joachim Kroll nach und nach zum Plaudern. Bis dahin schert sich niemand um ihn, den Außenseiter. Vor allem nicht die Frauen, im Gegenteil, sie verspotten ihn nur. „Vernatzen“, sagte Kroll selbst dazu. So steht es im Protokoll, das im Polizeiarchiv liegt. Dort stehen 16 Aktenordner und ein Pappkarton mit Zeitungsberichten zum „Fall Kroll“. Wort für Wort erhärtet sich der Verdacht, das Marion K. nicht sein einziges Mordopfer ist.

Die Anklage: acht Morde und ein Mordversuch

Sein wohl spektakulärster Fall in 44 Dienstjahren führt Bernd Jägers weit über die Stadtgrenzen von Duisburg hinaus, kreuz und quer durch NRW. Gemeinsam mit dem vermuteten Serienmörder klappern sie die Tatorte der Liste mit nicht aufgeklärten Altfällen ab. Ein Problem ist: Joachim Kroll kann sich offenbar keine Ortsnamen merken. Dafür hat er wohl ein fotografisches Gedächtnis, vor Ort kann er sagen, ob er schon einmal hier war – und wie er eine Tat begangen hat.

Bei den Ermittlungen kommen viele weitere Gewalttaten und Grausamkeiten heraus, die er begangen haben will. In der Wikipedia sind unter seinen Namen 14 Mordopfer aufgeführt: 13 Tote und eine Spurlosverschwundene, die er auf dem Gewissen haben soll. Indes: Nachgewiesen werden Joachim Kroll acht Morde und ein Mordversuch, die 1979 vor der 9. Großen Strafkammer des Landgerichtes in Duisburg verhandelt werden, unter Vorsitz des Richters Paul Georg Schimmann.

Das Urteil: keine Psychiatrie, neun Mal lebenslange Haft

Demnach beginnt die Gräuelserie am 8. Februar 1955 in Lüdinghausen. Dort wird eine 19-jährige Frau vergewaltigt und erstochen, danach ihr verstümmelter Körper gefunden. Fest steht: Seinen letzten Mord begeht Joachim Kroll am 3. Juli 1976 in Duisburg-Laar. Das Verfahren gegen ihn dauert 155 Prozesstage, die sich über zweieinhalb Jahre strecken. Das Urteil über ihn wird am 4. April 1982 verkündet. Der Angeklagte wird für voll schuldfähig befunden und zu neun Mal lebenslanger Haft verurteilt.

Bernd Jägers begrüßt den Richterspruch im Namen des Volkes, er hätte es „schade gefunden, wenn Kroll in der Psychiatrie gelandet wäre.“ In der Haft, am 1. Juli 1991, stirbt Joachim Kroll in der Justizvollzugsanstalt in Rheinbach an einem Herzinfarkt. Fast auf den Tag genau 15 Jahre nach dem Mord an Marion K. Sie wäre dann 19 Jahre alt gewesen, gerade erwachsen, und hätte ihr Leben doch noch vor sich gehabt.

Joachim Kroll (Mitte) vor dem Landgericht in Duisburg. 1979 wird er für acht Morde und einen Mordversuch verurteilt.
Joachim Kroll (Mitte) vor dem Landgericht in Duisburg. 1979 wird er für acht Morde und einen Mordversuch verurteilt. © NRZ | Manfred Foltin

Zweifel eines Polizisten: Waren es nicht doch sehr viel mehr Morde?

Bernd Jägers ist mittlerweile im Ruhestand. Bis zum Ende begleitet ihn ein Unbehagen, wenn er an den „Fall Kroll“ denkt. „Mir und seinem Anwalt hat er von 20 bis 30 Morden erzählt“, erzählt der Kriminalhauptkommissar einige Jahre später dem Autor dieser Zeilen im Gewölbekeller des Polizeiarchives. Er glaubt dieser Aussage, er glaubt dem Täter, den er und seine Kollegen in einem Verhör geknackt haben. Und deshalb bedauert er es sehr, „Achim“ nicht mehr nachgewiesen zu haben.

Anmerkung: Diese Geschichte erschien im Dezember 2005 zum ersten Mal in dem NRZ-Magazin „Heimat am Niederrhein“; der Autor hat den Text leicht überarbeitet (mit Angaben seines wertgeschätzten Kollegen Thomas Richter).