Mülheim. Gastro, Pflege, Logistik und Co.: Immer wieder hören Mitarbeiter der Beratungsstelle Arbeit erschreckende Storys von Ausbeutung und Zwangsarbeit.

Vor zwei Jahren hat das Statistische Bundesamt gemeldet, dass in 2021 weltweit 27,6 Millionen Menschen Zwangsarbeit verrichten mussten: etwa auf Baustellen, als Hausangestellte, auf Feldern, in Minen oder durch sexuelle Ausbeutung. Das Amt berichtete von steigenden Zahlen und nannte als Beispiele nicht ausgezahlte Löhne, fehlende Kündigungsmöglichkeiten, extrem lange Arbeitszeiten und entwürdigende Bedingungen am Arbeitsplatz. Haarsträubende Geschichten dieser Art gibt es auch vor der Haustür in Mülheim, zeigen Berichte von Mitarbeitenden und Hilfesuchenden der Beratungsstelle Arbeit im Styrumer Treff.

In großem Kummer und arg gestresst hat sich beispielsweise eine Mutter an die Experten gewandt. Seit Jahren arbeitet die 45-Jährige in der Gastronomie, ist nun aber schon länger krankgeschrieben. Aus Sorge vor Repressalien mag sie nur anonym berichten. Ihr ist aber wichtig, dass ihr Leidensweg bekannt wird - und die große Hilfe, die sie am Rosenkamp erfahren hat.

Pausen gab es keine mehr, selbst Toilettengänge wurden irgendwann kritisch hinterfragt

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„Anfangs war alles gut“, erinnert sich die Servicekraft. Ihr Vorgesetzter habe beim Einteilen der Schichten sogar Rücksicht darauf genommen, dass sie Kinder hat. Dann aber wurden Stellen abgebaut, der nette Chef kündigte, „und ein anderer kam, der keine Ahnung von den Abläufen hatte“. Der Druck sei gewachsen, „auf meine persönliche Situation hat bald niemand mehr geachtet“. Mit einem Mal habe man sie auch außerhalb Mülheims eingesetzt, vermehrt zu nächtlicher Stunde. „Nachttarif wurde nicht bezahlt.“ Irgendwann gab es „nicht mal mehr Pausen, selbst Toilettengänge wurden kritisch hinterfragt“.

Zwei Jahre lang habe sie „so gelitten“. An einem Abend habe man dann „zu zweit 200 Gäste“ bedienen müssen, „minimum zehn Kräfte wären nötig gewesen“. Da die Sache anders lief, als der Chef sich das vorgestellt hatte, krachte es hinter den Kulissen: „Er hat mich angeschrien.“ Sie habe gewagt, zu erwidern, „ich habe nur zwei Hände“. Daraufhin sei er erst recht wütend geworden.

Noch heute hat sie Alpträume, noch heute meidet sie den Weg, den sie früher immer zur Arbeit gefahren ist

Wiederholt dachte die 45-Jährige an Kündigung, doch man habe sie bekniet zu bleiben. „Die wissen, dass ich eine gute Arbeitskraft bin.“ Und, ja, natürlich benötigte sie das Einkommen auch für ihre Familie. „Irgendwann aber konnte ich nicht mehr.“ Sie sei „eigentlich eine fröhliche Frau, damals aber konnte ich nicht mal mehr lächeln“. Noch heute sei es ihr unmöglich, den Weg zu fahren, den sie jahrelang zur Arbeitsstelle nehmen musste. Noch heute habe sie Alpträume wegen der Erlebnisse.

„Es gibt in Mülheim Arbeitgeber, die andere massiv ausbeuten und klar gegen arbeitsrechtliche Standards verstoßen.“

Jenny Janßen
Mülheimer Beratungsstelle Arbeit

Für Jenny Janßen, Mitarbeiterin in der Beratungsstelle, kein Einzelfall: „Es gibt in Mülheim Arbeitgeber, die andere massiv ausbeuten und klar gegen arbeitsrechtliche Standards verstoßen.“ Erst kürzlich habe sie einem Mann geholfen, der von einer Leiharbeitsfirma zur nächsten durchgereicht wurde und bei einem Paketdienst schuften musste. „Er ist einmal falsch abgebogen und gleich in eine prekäre Lage geraten.“

In der Beratungsstelle habe der Einzelhandelskaufmann Hoffnung geschöpft, doch noch in seinem eigentlichen Job unterzukommen. Er habe gelernt, im Netz nach Stellen zu suchen und Bewerbungen zu schreiben.

Geld für eine Meldeadresse in Deutschland bezahlt und doch nur im Lkw gehaust

Vor allem aus Gastronomie, Pflege und Logistik kommen Beschwerden über Ausbeutung. Christine Keidel, Leiterin der Beratungsstelle, fallen etwa die acht Lkw-Fahrer aus Rumänien ein, die mit einem Mal ohne Gehalt dastanden. „Wie sich herausstellte, hat man ihnen auch regelmäßig Geld abgeknöpft für eine Meldeadresse vor Ort. Eine Unterkunft hatten sie deshalb noch lange nicht, sie mussten im Lkw schlafen.“

„Doch sie wollten nicht gegen den Arbeitgeber vorgehen, hatten Angst davor, auch noch den Lkw zu verlieren und obdachlos zu werden.“

 Christine Keidel
Leiterin der Beratungsstelle Arbeit in Mülheim

In der Beratungsstelle klärte man sie über ihre Rechte auf, bot an, Polizei und Zoll einzuschalten. „Doch sie wollten nicht gegen den Arbeitgeber vorgehen, hatten Angst davor, auch noch den Lkw zu verlieren und obdachlos zu werden.“ Der Chef habe mit Abschiebung gedroht - „das war ganz klar Zwangsarbeit“. Mittlerweile sei die Logistik-Firma insolvent - „fünf der Männer haben einen neuen, besseren Job“. Die anderen drei seien „abgetaucht“.

Jenny Janßen (l.) und Christine Keidel von der Mülheimer Beratungsstelle Arbeit im Styrumer Treff.
Jenny Janßen (l.) und Christine Keidel von der Mülheimer Beratungsstelle Arbeit im Styrumer Treff. © FUNKE Foto Services | Michael Dahlke

Auch aus dem Erziehungsbereich kennt Keidel Fälle, die mit Ausbeutung und Leid zu tun haben: „Kinderpflegerinnen sind oft allein mit der Gruppe. Dabei müssen Erzieherinnen anwesend sein.“ Der Fachkräftemangel verstärke die schwierige Situation oft noch.

„Mein Arbeitgeber neigt dazu, Leuten zu kündigen, wenn sie sich wehren“

Dass einem nicht immer wohlmeinende Vorgesetzte zur Seite stehen, hat auch eine Altenpflegehelferin (33) aufs Bitterste erfahren. Auch sie möchte unerkannt bleiben. „Zumal mein Arbeitgeber dazu neigt, Leuten zu kündigen, wenn sie sich wehren und - in seinen Augen - zum schwierigen Fall werden.“

Zu Beginn lief alles glatt, „meine Chefin hat dafür gesorgt, dass alle gut versorgt waren“. Dann gab es auch hier einen Wechsel in der Leitung - „und plötzlich musste ich fast alle anspruchsvollen Fälle übernehmen“. Dabei wäre das der Job von Vorgesetzten gewesen. Man habe sie mehrfach gegen ihren Willen versetzt, ihr neue Aufgaben aufs Auge gedrückt, nach Fehlern gesucht und schließlich sogar angedroht, das Gehalt zu kürzen.

Lange Zeit habe sie trotzdem alles mitgemacht. Schließlich aber kippte die Sache, die Helferin fühlte sich regelrecht „entmündigt und gehasst“. Sie habe „massiv Angst entwickelt“.

Helferin musste auch Medikamente zusammenstellen - dabei hätte sie das gar nicht gedurft

„Sie war stark überfordert“, kritisiert Keidel, „stand im Spätdienst auch mal allein da. Dabei darf sie nur assistieren.“ Sie habe selbständig Medikamente zusammenstellen müssen, „was in ihrer Position verboten ist“. In der Beratungsstelle hat die 33-Jährige mittlerweile einiges übers Arbeitsrecht gelernt und die Mitarbeiterinnen haben dafür gesorgt, dass die Agentur für Arbeit alle nötigen Unterlagen bekommt. „Eine Umschulung“ sei in ihrem Fall der wahrscheinlichste Ausweg, heißt es.

Wie es mit der Servicekraft weitergeht, steht hingegen noch in den Sternen. Bislang, erzählt Keidel, zeige sich der Arbeitgeber „unkooperativ“. Die 45-Jährige kann trotzdem wieder lächeln: „Ich bin hier allen dankbar: Sie haben mich unterstützt, Briefe geschrieben, Unterlagen ausgefüllt und mir bei einem Problem mit dem Arbeitsamt geholfen. Jetzt kriege ich Gott sei Dank wieder Geld. Und ich weiß: Ich bekomme hier jederzeit wieder Hilfe.“

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