Mülheim. Manuela Menzel lebt im Hochhaus. Im Leben wollte sie da nicht hin. Heute wohnt sie gern dort. Über eine Wohnform, die gerade ein Revival erlebt.

„Das erste Mal, als ich reinkam, dachte ich, ich bin im Hotel“, sagt Manuela Menzel. Ein Concierge im Mietshaus? Hierzulande eher eine Seltenheit. Die gebürtige Duisburgerin hatte zwar auch schon vorher mal eine Wohnung im Hochhaus. „Aber in so einem Riesending hab ich noch nicht gewohnt.“ Später im Gespräch wird sie das noch korrigieren. War keine schöne Erfahrung; vergisst man besser.

Manuela Menzel treffen wir auf der Vier. Vom Forum betrachtet wohnt sie im hintersten der weithin sichtbaren Betonriesen am Hans-Böckler-Platz. Kleines Bad, kleine Wohnküche; das Schlafzimmer ist zugleich Wohnzimmer. 42 Quadratmeter insgesamt. Die einzige Fensterfront geht zum Balkon raus. „Nachmittags ist hier kräftig Sonne“, sagt Manuela Menzel. Der Blick reicht vom rot verklinkerten Postgebäude am Bahnhof bis zu den grünen Hügeln am Ostufer der Ruhr. Vis-a-vis die kalkweiße Fassade des Technischen Rathauses. Auf der voll vergitterten Außentreppe stehen etagenweise Menschengrüppchen. Es ist Mittag: Raucherpause.

Dass im Hof mit Drogen gedealt wird, stört sie nicht

Manuela Menzel ist froh, „auf der grünen Seite“ zu wohnen. Vom viel befahrenen Dickswall dringt nur ein leises Rauschen herüber. An der massiven Balkonbrüstung hängen weiße Plastiktöpfe, darin Küchenkräuter neben Pflänzchen, die der Wind gesät hat. Ein grobmaschiges Netz ist über die gesamte Balkonfront gespannt. „Sonst nisten hier die Tauben“, erklärt Menzel. „Die Kleinen kommen aber da durch.“ Gemeint sind Spatzen. Für die steht auf dem Tisch neben dem Aschenbecher ein Schälchen mit Körnern.

Unten erstrecken sich grau in weiß die Hofanlagen. „Da wird gedealt“, sagt Menzel. Seit der Teillegalisierung von Cannabis noch mehr. So komme es ihr jedenfalls vor. Sie kann das nicht gutheißen, bezeichnet sich als „absolute Drogengegnerin“. Bedroht fühlt sie sich aber nicht. „Die lassen einen ja in Ruhe, die machen da bloß ihre Geschäftchen.“

„Ich wollte nie in son Hochhaus ziehen, das ist ja wie ‘ne Kaserne“

Die 57-Jährige arbeitet als Kassiererin bei einem Discounter, zur Arbeit hat sie es nicht weit. In Duisburg ist sie öfter umgezogen, meistens hat sie sich die Adresse mit zehn, zwölf Parteien geteilt, sagt sie. Jetzt sind es 126. „Ich sag’ mal so, ich wollte nie in son Hochhaus ziehen, das ist ja wie eine Kaserne.“ Nach drei Jahren im Megahochhaus sagt sie: „Es kommt auf die Menschen an.“

So viele Nachbarn wie jetzt hatte Manuela Menzel vorher nie, sagt sie. Mit den allermeisten verstehe sie sich gut.
So viele Nachbarn wie jetzt hatte Manuela Menzel vorher nie, sagt sie. Mit den allermeisten verstehe sie sich gut. © FUNKE Foto Services | Oliver Mueller

Sie kann das gut beurteilen. Vorher hat sie zwei Jahre im Forum-Tower gewohnt, dem vordersten der vier Hochhäuser. Gleiche Lage, gleiche Architektur – ganz andere Atmosphäre, so Menzel. Es ist der Teil ihrer Wohnbiografie, den sie eingangs vergessen hatte. „In der Eins war nicht viel mit Kontakt, das war nicht schön“, sagt sie. Sich selbst beschreibt sie als offenen Typ. „Ich grüße auf jeden Fall, das macht man ein-, zwei-, dreimal, wenn dann nichts zurückkommt, lass’ ich‘s.“ Nach zwei Jahren war sie weg.

Schokonikoläuse zur Mieterbindung

„Hier ist es gleich anders gewesen. Man kennt sich.“ Griesgrämige gäbe es ja überall, sagt die 54-Jährige, „bei den Deutschen so wie bei den Ausländern“. Die jetzige Rückgrüßquote? Beinahe 100 Prozent, sagt Menzel. Die befürchtete Anonymität im Funktionsbau – Stichwort Kaserne – hat sich nicht bestätigt, im zweiten Anlauf jedenfalls. „Wenn man was braucht, kann man beim Nachbarn anklingeln.“ Als ihr Bad renoviert wurde, habe sie das einer Dame vom selben Flur mitbenutzen dürfen.

Und mit Mietangelegenheiten könne sie immer direkt zu Gerd kommen. Gerd, so heißt der Concierge, der im Eingangsfoyer sitzt. Bis 22 Uhr gebe es im Haus zudem einen Sicherheitsdienst. Der Postraum ist verschlossen, „dass da nicht jeder reinkommt“, sagt Menzel, „das ist schon was Feines“. Einmal im Jahr wird im Hof ein Sommerfest veranstaltet und am 6. Dezember stände immer ein Schokonikolaus vor der Tür. „Ich finde das schön“, sagt Menzel, fast verteidigend. „Das macht nicht jeder.“

Wohnklötze statt Kleckerbauten?

In den 60ern und 70ern sind zahlreiche Großwohnsiedlungen entstanden. Anfangs begehrt wegen des hohen technischen Standards, gerieten die Siedlungen spätestens ab den 80er Jahren zunehmend in Verruf. Weil in Deutschland akuter Wohnraummangel herrscht, viele Siedlungen gleichzeitig saniert werden müssten und niedriggeschossige Wohnbauten ökonomisch und aufgrund ihres Flächenbedarfs auch ökologisch einen hohen Preis haben, rücken die missliebigen Großprojekte nun als Zukunftslösung zurück ins Blickfeld.

Anfang des Jahres meldete sich gar der Kanzler zu Wort: „Wir brauchen wahrscheinlich 20 neue Stadtteile in den meistgefragten Städten und Regionen – so wie in den 70er Jahren“, sagte Olaf Scholz gegenüber der Heilbronner Stimme. Wie die Großwohnsiedlungen der Zukunft aussehen könnten, wird aktuell im Rahmen diverser Studien wissenschaftlich erforscht. Erste Ergebnisse legen nah: besser nicht „so wie in den 70er Jahren“.

422 Euro warm für eine Wohnung mitten im Zentrum

Ihrem Vermieter gehören zwei der vier Türme, das Technische Rathaus und der Zwillingsturm mit den Nummern 7 und 9. Die drei grünen Lettern an deren Spitze können selbst die vielen Tausend Bahnpendler noch lesen, die tagtäglich an der Stadt vorbeirauschen. Das Wahrzeichen der Stadt ist zugleich das Aushängeschild der Service- Wohnungsvermietungs- und -baugesellschaft mbH (SWB).

Seit rund 50 Jahren prägen die vier (eigentlich fünf) Hochhäuser das Gesicht der Stadt.
Seit rund 50 Jahren prägen die vier (eigentlich fünf) Hochhäuser das Gesicht der Stadt. © FUNKE Foto Services | Oliver Müller

Die 1976 fertiggestellte Forum City in Mülheim unterscheidet sich von den meisten Großwohnsiedlungen, die ab den 60er Jahren in West- und Ostdeutschland entstanden sind. Die meisten wurden auf der grünen Wiese gebaut. Die Randlage verstärkte vielfach das Gefühl der Bewohner, abgehängt zu sein. In vielen Großstädten spiegelt sich das in eklatanten Mietgefällen nieder; wer es sich leisten kann, zieht ins Zentrum, wer nicht, harrt aus vor den Toren der Stadt.

„In der Innenstadt ist ja fast nix mehr los“

Im Ruhrgebiet ist es genau andersherum. Die begehrtesten Wohnlagen sind weit ab vom Schuss; im Zentrum liegen die Mieten meist unter dem Durchschnitt. Manuela Menzel zahlt für ihre sozial geförderte Wohnung 422 Euro warm. Das seien weniger als 30 Prozent ihres Monatslohns. Genau so soll es sein, besagt die lange Zeit gültige Regel, die bei Wohnungssuchenden in Köln und Düsseldorf eher Schulterzucken auslöst; heutzutage ist man froh, überhaupt etwas zu finden.

Grünes Image für den grauen Riesen

Die grau-weiße Beton-Stadt am Mülheimer Forum soll aufwendig saniert werden. Am Doppelhaus am Hans-Böckler-Platz 7/9 ist eine Fassadenbegrünung bis zur 9. Etage geplant, die darüber liegenden Balkone werden verglast und grün foliert. Darüber hinaus sollen Photovoltaik-Anlagen installiert und sämtliche Fenster ausgetauscht werden.

Man warte derzeit nur noch auf eine Baugenehmigung, teilt eine Pressesprecherin auf Anfrage mit. Sollte die in der Sommersaison nicht mehr erfolgen, rechne man mit einem Baubeginn ab Frühjahr 2025. Die Sanierung aller Bäder sei im größeren der beiden Türme mit seinen 126 Wohnungen so gut wie abgeschlossen, 80 weitere nebenan sollen bald folgen. Umgerechnet in durchschnittliche Mietshäuser à sieben Parteien stapeln sich damit am Hans-Böckler-Platz 7/9 ganze 30 Mehrfamilienhäuser in die Höhe.

Im Ruhrgebiet ist die Lage weniger angespannt, das Angebot ist größer, die Mieten niedriger als der Durchschnitt, so auch in der „schönen Stadt am Fluss“, wie sich Mülheim tapfer selbst vermarktet; „eine Rentnerstadt“ nennt Menzel sie. Die Frau, die mitten im Zentrum neben einem Einkaufszentrum wohnt, sagt: „Wenn ich richtig shoppen will, fahr ich nach Essen. In der Innenstadt ist ja fast nix mehr los.“ Über den Plan, das Forum zum Ärztezentrum umzubauen, schüttelt sie den Kopf. „Dadurch sind auch wieder viele Geschäfte weg“.

Mit dem Motorrad immer der Ruhr entlang

Was ihr an der Wohnlage gefällt? Dass sie schnell weg ist. Am Wochenende holt sie ihre Luxxon Twinrider aus der Garage. Mit dem 125er-Chopper fährt sie dann ins Grüne, Richtung Mintard, rüber zum Baldeneysee. Nicht mal abends habe die Stadt etwas zu bieten. „Samstags um 18 Uhr sind hier doch die Bordsteine hochgeklappt.“ Früher sei das besser gewesen, Corona habe da viel kaputt gemacht, nicht nur hier. In größeren Städten fielen die Lücken aber nicht so stark auf. „Die Stadt ist nicht mehr schön“, sagt Manuela Menzel. Wenn sie in Rente geht, will sie aufs Land ziehen.

Mehr zum Thema

Bleiben Sie in Mülheim auf dem Laufenden!

>> Alle Nachrichten aus Mülheim lesen Sie hier. +++ Abonnieren Sie kostenlos unseren Newsletter per Mail oder Whatsapp! +++ Hier kommen Sie zu unseren Schwerpunktseiten Wohnen, Gastronomie, Handel/Einkaufen und Blaulicht. +++ Zu unserem Freizeitkalender geht es hier. Legen Sie sich doch einen Favoriten-Link an, um kein Event zu verpassen! +++ Lokale Nachrichten direkt auf dem Smartphone: Laden Sie sich unsere News-App herunter (Android-VersionApple-Version).