Kranenburg. Der Kranenburger Philosoph Jean-Pierre Wils wünscht sich eine Abkehr vom Turbo-Kapitalismus. Warum Verzicht uns freier machen würde.

Gibt es noch Hoffnung für unseren Planeten? Wenn man die Nachrichten der letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre liest, kommen einem Zweifel: Das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen liegt bald hinter uns, gespickt mit zahlreichen Umweltkatastrophen – Brände, Überschwemmungen, Hitzewellen, Hungersnöte. Und noch immer gibt es keine wirkliche Einsicht, dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, wenn wir auf dieser Welt eine Zukunft haben wollen.

Der in Kranenburg lebende Philosoph Jean-Pierre Wils (67) fordert in seinem neuen Buch „Verzicht und Freiheit – Überlebensräume der Zukunft“ eine Abkehr von unserem heutigen Freiheitsverständnis, das so stark auf Ressourcenverbrauch basiert. Eine Neuorganisation unserer Freiheit würde nicht dazu führen, „dass wir weniger frei sind, sondern dass wir anders frei sind“, schreibt er. Im Interview mit der NRZ erklärt Wils, warum ein Umdenken dringend notwendig ist.

NRZ: Nach der Lektüre Ihres Buches „Verzicht und Freiheit“ ist man etwas deprimiert.

Jean-Pierre Wils: Das ist auch kein fröhliches Thema. Aber meine Intention ist, dass wir aus unserer Schonhaltung herauskommen müssen. Es bringt nichts, die Realitäten zu verdrängen. Veränderungen wird es nur geben, wenn wir uns auf ein realistisches Bild der Lage einlassen. Man muss sich nur die jüngsten Überschwemmungen in Spanien anschauen, um zu erkennen, wie weit wir vom Weg abgekommen sind. Oder auf den austrocknenden Amazonas schauen. Solche extremen Wetterereignisse haben wir in dieser Intensität noch vor wenigen Jahren nicht gekannt. 

„ Wir können uns leicht aus der Realität herausklicken. Wir haben Zugang zu Vergnügungen aller Art, die uns ein wenig narkotisieren.“

Jean Pierre Wils über einen veränderten Medienkonsum.

Sind wir Menschen überhaupt in der Lage, uns ein realistisches Bild zu machen? Denn parallel zur Klimakrise erleben wir eine Medienkrise. Wir werden mit Informationen überflutet, auch mit Falschinformationen. Die Menschen schalten ab, wollen nicht mehr lesen, verweigern sich der Realität.

Grundsätzlich sind wir dazu in der Lage, wenn wir die Bereitschaft aufbringen, uns aus unserer Schonhaltung herauszulösen. Wir haben Zugang zu verlässlichen Quellen, es gibt nicht nur Fake News im Internet. In der Wissenschaft und in den seriösen Medien gibt es einen breiten Konsens über die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels. Aber ein großer Teil der Bevölkerung setzt sich nicht damit auseinander. Das hat sicher auch mit unserer Medienlandschaft zu tun: Wir werden überflutet mit Informationen und Desinformationen, aber auch mit unzähligen, leicht zugänglichen Medien der Unterhaltung und Selbsttäuschung. Wir können uns leicht aus der Realität herausklicken. Wir haben Zugang zu Vergnügungen aller Art, die uns ein wenig narkotisieren.

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In Ihrem Buch „Verzicht und Freiheit“ betonen Sie, wie wichtig ein gewisser Luxus und Wohlstand für den Erhalt unserer Demokratie sind. Gleichzeitig sehen Sie die Notwendigkeit des Verzichts. Wie passt das zusammen? Welche Hoffnung haben Sie für unser Gesellschaftsmodell, für unser Leben in einem kapitalistischen System?

Bei den Recherchen für dieses Buch habe ich mit Blick auf die Geschichte gelernt, dass die moderne liberale Demokratie nicht nur das Ergebnis einer politischen Prioritätensetzung ist, sondern ein Wohlstandsphänomen darstellt. Demokratien sind solange vergleichsweise robust, solange es Wohlstand zu verteilen gibt, breite Bevölkerungsschichten also am Wachstum teilhaben. Hinzu kommt, dass die modernen Demokratisierungsprozesse eine offene Zukunft voraussetzen konnten, also eine Perspektive, die von wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritten geprägt war. Diese Voraussetzungen haben Risse bekommen. Das Bündnis zwischen Demokratie und Wohlstand hat sich erheblich gelockert.  

Inzwischen haben wir nämlich am Beispiel Chinas gelernt, dass Wohlstandsverteilung auch ohne Demokratie möglich ist. Das ist für uns im Westen eine relativ neue Erkenntnis. In Zeiten wirtschaftlichen Drucks, in denen die Mittelschicht aufpassen muss, nicht nach unten zu rutschen, bröckelt das Vertrauen in die Demokratie und man ist durchaus geneigt, sich totalitären und autokratischen Alternativen zuzuwenden. Es kommt darauf an, ob wir Hoffnung mobilisieren können. Hoffnungslos wird es, wenn wir uns nicht mehr um die Realitäten kümmern und uns in Pseudowelten verlieren. Dann sind wir verloren.

Jean-Pierre Wils
Jean-Pierre Wils, Philosoph aus Kranenburg. © NRZ | Andreas Gebbink

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Aber sind wir nicht längst auf dem Weg zur Realitätsverweigerung? Elon Musk sagt: Wenn einem die Realität nicht gefällt, ignoriert man sie einfach.

Es ist in der Tat leicht, sich Zugang zu erfolgreichen Medien der Produktion von Pseudorealitäten zu verschaffen. Diese sind in der Lage, den Unterschied zwischen Fiktionen und Realität verschwinden zu lassen. Man denke nur an die Möglichkeiten und Gefahren der Künstlichen Intelligenz (KI). Was vor wenigen Jahren noch nicht möglich schien, ist heute unumkehrbar. Es gibt nicht den Hauch einer Chance, in die 70er Jahre zurückzukehren, weder wirtschaftlich noch politisch und schon gar nicht ökologisch. Nostalgie wäre völlig fehl am Platz. Die Folgen des Klimawandels sind gravierend. Und wir stehen erst am Anfang der Entwicklung. Was wir jetzt erleben, sind die Folgen von Emissionen, die vor 20 oder 30 Jahren in die Luft geblasen wurden. 

Mir ist es sehr wichtig, dass wir verstehen lernen, warum wir in diese Sackgasse geraten sind und vor allem: Wir müssen uns auch ein neues Bild von uns selbst machen. Wollen wir wirklich so weitermachen? Oder gibt es keine attraktivere Alternative? Wie sinnvoll sind unsere Bedürfnisse? Könnte es sein, dass wir inzwischen einen Bedürfnishaushalt haben, der ziemlich verrückt ist?

Unser Hunger nach mehr lässt sich nicht stillen.

Kaum. Es gibt die verbreitete Vorstellung, dass wir beispielsweise das Recht haben, mehrmals im Jahr in Urlaub zu fahren oder gar zu fliegen, weil wir angeblich so hart gearbeitet haben. Nun, die Generation unserer Großeltern musste körperlich viel härter arbeiten als wir und hat erhebliche Entbehrungen erlebt. Sie besaßen viel weniger Genussmöglichkeiten. Heute wird uns so viel geboten und wir nutzen es auch. Sicherlich ist auch unsere Arbeit heute anstrengend, aber es ist nicht so, dass wir fünfmal härter arbeiten als unsere Großeltern. Aber wir beanspruchen für uns den 20-fachen Genuss, gleichsam als Kompensation für das von uns Geleistete.

Wir sehen jetzt schon, wie schwierig die Verteilungskämpfe werden, wenn das Wirtschaftswachstum ausbleibt. Die klassischen Industrien tun sich schwer, auf eine nachhaltigere Produktionsweise umzustellen (Stichwort VW). Die deutsche Wirtschaft ist vielleicht sogar ein Paradebeispiel dafür, wie schwierig es sein wird, unter den Bedingungen der CO2-Reduktion eine neue, global wettbewerbsfähige Wirtschaft aufzubauen.

Deutschland ist natürlich ein Autoland und wir sehen, wie sich die Dinge verändern. Man ist ein bisschen hilflos. Es gibt keine Patentlösung. Die Grundfrage lautet: Wie können wir eine ökonomische Transformation, die mit Reduktionen einhergehen wird, sozialverträglich, also gerechtigkeitspolitisch gestalten?  Wir müssen ein Stück weit aus dem Globalisierungswahn herauskommen. Das sagen auch seriöse Ökonomen, das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Wir müssen diese irrsinnigen Lieferketten reduzieren, wir müssen in den Regionen robuster werden. Um es konkret zu machen: Die Probleme der Altenpflege werden zunehmen. Die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt rapide zu. Ich glaube, dass wir auf regionaler Ebene Netzwerke aufbauen müssen, die sich um ältere Menschen kümmern. Das muss nicht nur aus altruistischen Gründen geschehen, aber es setzt voraus, dass wir ein Stück weit präsent sind. 

Menschen im Kreis Kleve
Verzicht und Freiheit. © Hirzel-Verlag | Hirzel-verlag

Wenn ich mir die Situation der Pflegekassen anschaue und die Herausforderungen, die noch vor uns liegen, dann wird es in Zukunft bitter nötig sein, dass sich Angehörige und Freunde wieder mehr um alte Menschen kümmern. Pflegeplätze sind nicht mehr bezahlbar.

Ja, das ist eindeutig. Aber wir denken immer noch, dass das nicht so ist. Wir gehen auf Biegen und Brechen, bis wir brechen, gebrechlich sind und es nicht mehr geht. Und so funktioniert das nicht. Wir können nicht unsere Freizeit auf Kreuzfahrtschiffen verbringen, bis wir kaputt sind, und dann gehen wir ins Altersheim. 

Die Bilder aus Spanien sind wirklich schockierend. Man sieht, wie eine ganze Region einfach zerstört wird. Und die Frage ist: Wie kann man sich gegen solche Entwicklungen wappnen? Das muss man in vielerlei Hinsicht tun. Wir müssen die Resilienz der Region stärken: materiell, infrastrukturell, aber auch sozial. Wir brauchen Versorgungsnetze, die stabil sind und nicht restlos privatisiert werden können. 

Sie heben in Ihrem Buch das unpopuläre Wort „Verzicht“ hervor. Viele Menschen wollen aber nicht verzichten. Das ist das Schlimmste, was man ihnen antun kann. Wie kann man Menschen dazu bringen, Verzicht zu üben? In Ihrem Buch sind Sie geneigt zu sagen, dass wir auch mehr über Verbote und Gebote nachdenken müssen. Aber bisher scheuen Politiker Verbote wie der Teufel das Weihwasser.

Wir sehen viel zu wenig, dass wir auf vieles verzichten, ohne es so zu nennen. Der Verkehr zum Beispiel funktioniert nur mit enormen Einschränkungen, gesetzlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen und so weiter. Freiheit entsteht immer durch Einschränkungen. Wenn ich nicht spare, kann ich mir bestimmte Dinge nicht leisten. Sparen ist zunächst ein Verzicht, damit ich mir bestimmte Freiheiten leisten kann.

„Unsere Kultur der Selbstentfaltung hat uns inzwischen an den Rand der Selbsterhaltung geführt. Wir müssen umkehren.“

Jean Pierre Wils sieht im Verzicht einen neue Chance für die Freiheit.

Aber es stimmt, Begriffe wie Verzicht, Verbot, Mäßigung, Sparsamkeit finden die Menschen irgendwie schrecklich, zumindest unsympathisch. Sie verbinden das mit Freiheitseinschränkung, weshalb die Freiheit zu einem Kampfbegriff geworden ist. Aber das beruht auf einer sehr schmalen Basis des Verständnisses, was Freiheit eigentlich bedeutet. Unsere Kultur der Selbstentfaltung hat uns inzwischen an den Rand der Selbsterhaltung geführt. Wir müssen umkehren. Zum Realismus gehört, dass wir erkennen, dass wir unsere Maxime der Selbstentfaltung, die immer eine Verbrauchermaxime ist, so oder so nicht werden durchhalten können. Wir haben nun zwei Möglichkeiten: Entweder wir organisieren die Einschränkungen geordnet und unter demokratischen Vorzeichen oder die Einschränkungen kommen ungeordnet und chaotisch auf uns zu. Dann wird es die Natur richten. Wir haben eigentlich keine Alternative.

Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, dass manches, was wir als Gewinn oder Genuss empfinden, oft auf unnötigen Einschränkungen beruht. Wie viel Gewalt tun Menschen sich an, um sich vielleicht einen Urlaub leisten zu können, der dann oft in die Hose geht? Wie viel Kraft, Energie und Lebenszeit investieren wir in Ziele, die nicht so wichtig sind?

Inwieweit nützt ein persönlicher Verzicht dem Klima überhaupt? Ein Konzern wie Thyssen-Krupp stößt Millionen Tonnen CO2 pro Jahr aus, Superreiche verbrauchen ein X-faches an CO2 als der Durchschnittsbürger. Warum sollten sich breite Bevölkerungsschichten überhaupt einschränken, wenn der entscheidende Hebel gar nicht in ihrer Hand liegt?

Wenn man lediglich kalkuliert, dann wird mein Verzicht nicht die Welt retten. Unser Handeln sollte aber nicht nur vom Kalkül bestimmt sein. Wir wollen morgens noch in den Spiegel blicken können und dort keinem Ignoranten begegnen. Wir können unsere Verantwortung nicht externalisieren. Wenn wir immer sagen: „Solange die anderen nichts tun, tue ich auch nichts“, nehmen wir uns als moralische Wesen nicht ernst. Dann handele ich gegen meine Überzeugung. Wenn wir so denken, dann haben wir uns selbst aufgegeben. Die Verantwortung fängt vor der eigenen Haustür an.

Jean-Pierre Wils

Jean-Pierre Wils hat bis zum Sommer an der Radboud-Universität in Nimwegen als Hochschullehrer gearbeitet. Er ist Philosoph, Medizinethiker und Theologe. Er studierte in Leuven (Belgien) und Tübingen und war als Professor in Tübingen, Ulm und Freiburg tätig.

Wils hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zuletzt: „Der große Riss. Wie die Gesellschaft auseinanderdriftet und was wir dagegen tun müssen“ und „Warum wir Trost brauchen: auf den Spuren eines menschlichen Bedürfnisses“. Beide Bücher sind im Hirzel-Verlag erschienen.

Sein neuestes Werk: Jean-Pierre Wils, Verzicht und Freiheit - Überlebensräume der Zukunft. Hirzel-Verlag, 279 Seiten, 26 Euro.

Muss man radikal werden?

Wir haben allen Grund, die Verzweiflung von Gruppen wie Extinction Rebellion oder Last Generation zu respektieren. Denn wir alle haben uns selbst in diese Situation gebracht. Ich muss offen gestehen: Ich freue mich über jede Blockade einer Flugpiste. Wir müssen radikal werden, im wahrsten Sinne des Wortes: Radikal heißt, an die Wurzel (Radix) zu gehen. Und das ist dieser Realismus. Wenn man den Mut hat, den Realitäten ins Auge zu sehen, ist man schon radikal. Mit welchen Mitteln man dies tut, ist eine andere Frage. Man kann boykottieren, man kann versuchen, in Gesprächen zu überzeugen. Gewalt ist abzulehnen. Aber eines ist sicher: Wir müssen uns von liebgewordenen Gewohnheiten verabschieden. 

Was kann Verzicht für mich im Alltag bedeuten? Woran soll ich mich orientieren? Dass der Wochenendflug nach Barcelona nicht in Ordnung ist, ist klar. Aber wie viel CO2 darf ich überhaupt ausstoßen, damit es dem Klima nützt? Was verursacht alles wie viel CO2? Das wissen wir im Alltag doch gar nicht.

Es gibt natürlich schon Berechnungen, wie der individuelle CO2-Fußabdruck aussehen müsste. Und das hat unglaubliche Auswirkungen auf unser Leben. Natürlich können wir nicht sofort aus Allem aussteigen. Aber man kann persönlich an vielen Dingen arbeiten, also Verzichte einüben: Weniger heizen, Dinge oder Kleidung erneut benutzen, Essgewohnheiten umstellen, nicht fliegen. Diese Formen des kreativen Sparens sind wichtig. Und da ist viel mehr möglich, als man denkt. Und das Leben wird dadurch keineswegs schlechter, im Gegenteil.

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