Essen. Das CUP-Syndrom ist rätselhaft und schwer behandelbar. Essener Ärzte haben an einer großen Studie mitgearbeitet und fanden neue Therapieansätze.

Vor knapp fünf Jahren wurde bei Peter Zimnick eine Krebserkrankung entdeckt. Dass der 65-Jährige heute noch lebt, hat er auch aktueller Forschung zu verdanken: Seine Essener Ärzte nahmen an einer internationalen Studie teil, die neue Behandlungsansätze für das CUP-Syndrom erforscht, an dem er leidet. „Herr Zimnick profitiert sehr gut von der ausgewählten Immuntherapie. Er ist ein Vorzeigekandidat“, sagt Dr. Christian Müller, Direktor der Klinik für internistische Onkologie an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM).

Müllers Vorgänger als Klinik-Direktor, Prof. Dr. Michael Stahl, ist Co-Autor der Cupisco-Studie und macht deutlich, welchen Fortschritt die Ergebnisse bedeuten: „Früher ist die Hälfte der CUP-Patienten nach sechs Monaten verstorben.“ Die Abkürzung CUP steht für „Cancer of Unknown Primary“, was auf Englisch die Tücke der Krebserkrankung beschreibt: Der Primärtumor ist unbekannt. Beschwerden machen die Metastasen, doch es lässt sich nicht ermitteln, wo der Krebs seinen Ursprung hat. Das erschwert eine wirkungsvolle Behandlung oder gar Heilung.

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Lange Zeit konnte man die Patienten lediglich mit einer breit wirksamen Chemotherapie behandeln. Jetzt gebe es treffgenauere Therapien, freut sich Stahl, der schon 1987 als angehender Arzt mit dem CUP-Syndrom in Berührung kam. Es ist so speziell, dass es auch viele Mediziner ratlos macht, und bei ihren Patienten die Botschaft ankommt: „Wir wissen nicht, was man tun kann.“ Die über drei Jahre laufende Studie, an der neben zehn deutschen Zentren Mediziner aus aller Welt beteiligt waren, habe bewiesen, „dass das Unfug ist: Man kann etwas tun“.

Tausende Krebspatienten habe man im Vorfeld extrem aufwendig untersucht, und bei vielen so doch noch den Primärtumor gefunden – CUP-Patienten waren sie damit nicht mehr. „Durch die Studie ist das CUP-Syndrom seltener geworden, weil wir gelernt haben, die Patienten besser zu erkennen“, sagt Stahl. Anders als zuvor angenommen, mache CUP wohl nicht gut sieben Prozent der Krebserkrankungen aus, sondern nur etwa drei Prozent.

CUP-Syndrom und Cupisco-Studie

Das CUP-Syndrom (Cancer of Unknown Primary = Krebserkrankung mit unbekanntem Primärtumor) macht laut Deutscher Krebsgesellschaft (DKG) etwa zwei bis vier Prozent aller Krebserkrankungen aus. Typischerweise treten Beschwerden auf, die die Diagnostik auslösen. Durch sie werden dann zwar Metastasen gefunden, doch der zugehörige Ursprungstumor ist nicht nachweisbar.

Die Spezialisten der Uniklinik Heidelberg forschen intensiv zum CUP-Syndrom und bieten seit 15 Jahren eine Sprechstunde für Betroffene an. Den Experten zufolge lässt sich die Tumorform vergleichsweise schwierig behandeln, da über die Biologie des CUP-Syndroms bis heute nur wenig bekannt sei. In vielen Fällen gebe es daher eine ungünstige Prognose.

Welche Behandlung im jeweiligen Fall zum Einsatz kommt, hängt auch davon ab, ob es zumindest Rückschlüsse auf den wahrscheinlichen Primärtumor gibt. Mögliche Behandlungen sind: operative Entfernung der Metastasen; Chemotherapie; Strahlentherapie; Hormontherapie; Antikörpertherapie; Immuntherapie und zielgerichtete, mutationsspezifische Therapie. Der Therapieplan wird auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse für jeden Patienten individuell erstellt.

Die internationale Cupisco-Studie unter Leitung der Uniklinik Heidelberg hat untersucht, ob molekular zielgerichtete Therapien und Immuntherapien bei Patienten mit neu diagnostiziertem CUP-Syndrom einer Standard-Chemotherapie überlegen sind. An der Studie nahmen mehr als 130 Studienzentren in 34 Ländern teil. Darunter die Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM). Die Ergebnisse wurden im August 2024 im renommierten Fachjournal „Lancet“ veröffentlicht.

Am Ende fanden sich rund 440 Studienteilnehmer weltweit. Einer von ihnen ist Peter Zimnick aus Rheinberg, bei dem sich das CUP-Syndrom anfangs durch Rückenschmerzen bemerkbar machte: „Ich dachte, ich hätte einen Hexenschuss und ging zum Orthopäden.“ Der machte sicherheitshalber ein MRT und entdeckte so die Metastasen. Im Februar 2020 wurde Zimnick deswegen an der Lendenwirbelsäule operiert, die weitere Behandlung sollte ein Onkologe in Duisburg übernehmen. „Als der sah, dass es um CUP geht, hat er mich sofort an die Uniklinik Heidelberg verwiesen“, erzählt Zimnick. Heidelberg ist auf das CUP-Syndrom spezialisiert und leitete auch die Cupisco-Studie. Dem Patienten vom Niederrhein erklärte man, dass er bei den Kollegen in Essen in besten Händen sei.

Weil der Duisburger Onkologe erst gar nicht mit der Therapie begonnen hatte, konnten die Essener Peter Ziminick in die Studie aufnehmen. „Ein Behandlungsbeginn wäre ein Ausschlusskriterium gewesen“, erklärt Dr. Müller. So standen zunächst umfangreiche Untersuchungen an, die Zimnicks Geduld strapazierten: „Da vergehen zwei, drei Wochen und man weiß, da wächst etwas. Ich wollte endlich die Chemo.“ Zimnick hatte mehrere Weichteiltumore und große Beschwerden: „Ich hatte so ein Ei am Halswirbel, das auf den Nerv drückte, ich konnte nur unter Schmerzen gehen.“

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Manche Patienten hätten unter solchem Behandlungsdruck auf die Teilnahme an der Studie verzichtet, sagt Dr. Müller. „Das ist für sie auch eine Folter, wenn der Arzt guckt und guckt und guckt.“ Wenn sich Experten aus vielen Ländern über ihren Fall austauschten. Peter Zimnick hielt durch und bekam dann, wie alle Teilnehmer, zuerst neun Wochen lang eine Standard-Chemotherapie. Parallel lief die molekulare Diagnostik.

Der Einsatz der Chemo ist zeitlich begrenzt und palliativ: Sie heilt die Betroffenen nicht. Also hofften die Forscher, ihren Patienten nach der Chemo „etwas Besseres“ anbieten zu können, sagt Stahl: eine zielgerichtete molekulare Therapie oder eine Immuntherapie. Fast ein Dutzend verschiedene Substanzen hatte man zur Verfügung, um jede Therapie möglichst individuell zuzuschneiden. Nicht immer habe es eine gute Wirksamkeit gegeben. „Doch eine ganze Reihe der Studienteilnehmer leben so lange wie Herr Zimnick.“

Generell sei die zielgerichtete Therapie zuverlässiger, ergänzt Müller. „Sie hat ein klar benennbares therapeutisches Ziel.“ Bei der Immuntherapie könne man schlechter voraussagen, ob sie wirkt: „Es gibt bei der Immuntherapie wenig Schlüssel-Schloss-Medikamente.“ Peter Zimnick hat die Immuntherapie nicht nur Zeit, sondern auch Lebensqualität geschenkt: Er macht Rad-Urlaube mit dem E-Bike, geht zwei-, dreimal die Woche schwimmen oder ins Fitnessstudio.

Zimnick ist auch Herz-Kreislauf-Patient und leidet in der Folge der Krebstherapien an einer schmerzhaften Neuropathie. Nachdem er lange krankgeschrieben war, ging der Justizvollzugsbeamte mit 62 Jahren in Ruhestand. „Aber ich fühle mich heute soweit gut.“ Er muss regelmäßige CT-Kontrolltermine wahrnehmen und hat bereits seine 80. Immuntherapie bekommen. Bei anderen Patienten habe man die Therapie wegen der Nebenwirkungen nach dem 60. Mal beenden müssen, sagt Dr. Müller: Sie seien weiter bei guter Gesundheit. Nur: Freiwillig aufhören wolle niemand. Auch Zimnick sagt: „Mir würde es Sorgen bereiten, wenn ich das abbrechen müsste.“

Einstweilen bleibt er Forschungsobjekt in der laufenden Anschlussstudie. Prof. Stahl und Dr. Müller freuen sich, dass neben vielen Unikliniken auch die Kliniken Essen-Mitte dank ihrer großen Erfahrung weiter dabei sind.

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